Heft 03/2012
David Marton und Sebastian Baumgarten
Die andere Oper
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 280 mm
ISSN 0040-5418
Wenn vom Paradigmenwechsel im Theater, von neuen Theaterformen oder dem sogenannten postdramatischen Theater die Rede ist, finden sich die unterschiedlichsten performativen Gemengelagen bezeichnet. Doch bei allen Differenzen ist ihnen ein Umstand gemeinsam: Die traditionelle Hierarchie der beteiligten Medien wird aufgehoben. Nur ein Bereich der darstellenden Künste schien bislang gegenüber allen Versuchen, ihn aufzubrechen oder zu enthierarchisieren, immun: die Oper. Doch die Festung wankt, wie dieses Heft von Theater der Zeit mit leichter Hand belegt.
„Wann stirbt die Oper?“, fragt Ralph Hammerthaler geradezu appellatorisch und schildert unter diesem Titel seine Erfahrungen als Librettist, einer verstaubten Opernrhetorik mit der schrillen „Bestmannoper“ zu Leibe zu rücken. Doch noch erweist sich der Apparat als starr und zu wenig beweglich für solche Experimente. Kein Zufall also, dass sich Sebastian Baumgarten für seine Bayreuther Inszenierung des „Tannhäuser“ Bundesgenossen im freien Stadtstaat AVL-Ville suchte. AVL-Ville, diese „hierarchiefreie Selbstermächtigungszone“, wie Ute Müller-Tischler schreibt, wurde im Hafen von Rotterdam vom Atelier Van Lieshout gegründet, dem auch unser Insert gewidmet ist.
„Wohin das Gesamtkunstwerk phantasieren?“, formuliert Sebastian Baumgarten selbst im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Frank Raddatz seine Suche nach neuen Öffnungen, während Dialogpartner David Marton berichtet, wie sein ambitioniertes Musiktheater den fremden Blick auf Tradiertes im Bereich der Sprechbühnen etabliert. Kein Zweifel, das Zeitgenössische hat mittlerweile bei seinem langen Marsch in Richtung eines neuen musikalischen Kunstwerks der Zukunft einiges Terrain an sich reißen können. Einer, der nicht damit geizt, das Seinige beizutragen, ist der Schauspieler Max Hopp. Als sich Frank Castorf 2006 zusammen mit Jonathan Meese in der Volksbühne Wagners „Meistersinger“ annahm, war er als Beckmesser dabei. Dorte Lena Eilers hat diesen Schauspieler-Sänger porträtiert. Dass sich die Kräfte der Beharrung mobil machen lassen, demonstriert alljährlich auch die Zeitgenössische Oper Berlin (ZOB). Hier ist man unterwegs, und zwar „ganz lässig. Die ZOB nämlich spielt mitten in der Stadt, im Kristallpalast des Berliner Hauptbahnhofs, zwei Wochen lang im Sommer, zwei Wochen lang moderne Musik.“ Die Zukunft des enthierarchisierten Gesamtkunstwerks hat also bereits begonnen.
Noch unbegangene Wege beschreitet auch das Deutsche Theater Berlin, wenn es mit der Neuen Bühne Senftenberg kooperiert und sich dem Thema Oderbruch widmet. „Ein Berlin-brandenburgischer Mythos“, meint Senftenbergs Intendant Sewan Latchinian, den Gunnar Decker zusammen mit DT-Intendant Ulrich Khuon und Regisseur Tobias Rausch zu dem ambitionierten Projekt über das hochwassergefährdete Gebiet befragt. „Land unter“, heißt es dagegen in Leipzig, wo man sich um den Titel einer europäischen Kulturhauptstadt 2020 bemüht. Gerade verliert man dort mit Operndirektor Peter Konwitschny und Schauspielchef Sebastian Hartmann zwei profilierte Steuermänner, und es steht zu befürchten, so Christian Horn, dass man in „Spielplangemütlichkeit“ zurückfällt, in eine kulinarische, stromlinienförmige Programmausrichtung beider Häuser.
Zäh sind die Kräfte der Restauration nicht nur in der Heldenstadt Leipzig, sondern auch in den Ländern des Arabischen Frühlings, dem Etel Adnan zufolge bereits ein arabischer Winter folgte. Rolf C. Hemke berichtet von den ernüchterten Revolutionären und ihrer Reflexion des Wandels beim Carthage-Festival in Tunesien. Aus Ägypten stammt Darja Stockers Tagebuch, in dem sie anlässlich einer Schreibwerkstatt in Alexandria beschreibt, wie die Konterrevolution bereits wieder Fuß gefasst hat und insbesondere Frauen Opfer der willkürlichen Übergriffe werden. Die Geschichte kehrt zurück. Wenn die Kämpfe unserer Zeit auch an der Peripherie Europas toben, sind sie damit keineswegs peripher und werden über kurz oder lang auch an uns einige Fragen stellen.
Die Redaktion
PS: Im Einklang mit der Entscheidung der Jury des Theatertreffens sei Ihnen unser Stückabdruck von Renè Polleschs „Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“ empfohlen.
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Thema | |
Künstlerinsert: Architekturobjektevon Joep van Lieshout | Seite 4 |
Form Follows FunctionDer Rotterdamer Künstler Joep van Lieshout und sein Kollektiv AVL denken Architektur von innen nach außenvon Ute Müller-Tischler | Seite 8 |
Angriffe aus der GegenweltDie Regisseure Sebastian Baumgarten und David Marton im Gespräch über Musik, Theater und die Zukunft der Opervon Dorte Lena Eilers, Frank M. Raddatz, Sebastian Baumgarten und David Marton | Seite 12 |
Der andere KerlAnarchie mit Gesang – Über den Schauspieler Max Hoppvon Dorte Lena Eilers | Seite 16 |
Wann stirbt die Oper?Über die Missachtung des zeitgenössischen Werksvon Ralph Hammerthaler | Seite 20 |
Ein Haus aus klingendem GlasDie Zeitgenössische Oper Berlin erprobt am Hauptbahnhof das Musiktheater der Zukunftvon Dorte Lena Eilers | Seite 22 |
Debatte | |
Gebrochene MythenDie Intendanten Ulrich Khuon und Sewan Latchinian sowie der Regisseur Tobias Rausch im Gespräch über das gemeinsame „Oder Bruch“-Projektvon Gunnar Decker, Ulrich Khuon und Sewan Latchinian | Seite 24 |
Wie hältst du’s mit der Kunst?Leipzig am Scheideweg: Die Suche nach einem neuen Intendanten für das Centraltheater wird zur Gretchenfrage an die Politikvon Christian Horn | Seite 28 |
Look Out | |
Zwischen den KünstenDer Regisseur Nils-Arne Kässens will Theaterräume neu denken – mit den Mitteln der bildenden Kunstvon Tina Fibiger | Seite 32 |
Der Kämpfer fürs EigentlicheDer Schauspieler Michael Wächter hinterfragt im Theater Rollen, Regisseure und Institutionvon Anna Volkland | Seite 33 |
Ausland | |
Im arabischen WinterWas ist vom Arabischen Frühling geblieben?von Etel Adnan | Seite 34 |
Winterreise nach KairoEine Schreibwerkstatt versucht die Revolution auf die Bühne zu bringen, während die Straßenkämpfe immer blutiger werdenvon Darja Stocker | Seite 35 |
Die Ernüchterung der RevolutionäreDas Festival Journées Théâtrales de Carthage begibt sich im Jahr eins nach Ben Ali auf doppelten, auf politischen Bodenvon Rolf C. Hemke | Seite 38 |
Auftritt | |
Berlin: Requiem für einen TrinkerMaxim Gorki Theater: „Der Trinker“ von Hans Fallada. Regie und Bühne Sebastian Hartmann, Mitarbeit Bühne Tilo Baumgärtel, Kostüme Adriana Braga Peretzkivon Gunnar Decker | Seite 40 |
Bremen: Von der Ministerin gepudertTheater Bremen: „AltArmArbeitslos – Die Bremer Stadtmusikanten“ (UA) von Volker Lösch und Beate Seidel. Regie Volker Lösch, Bühne Carola Reuther, Kostüme Sarah Roßbergvon Alexander Schnackenburg | Seite 41 |
Dresden: Das Gesetz trägt GlatzeStaatsschauspiel: „Der zerbrochne Krug“ von Heinrich von Kleist. Regie Roger Vontobel, Bühne Magda Willi, Kostüme Dagmar Fabischvon Lena Schneider | Seite 42 |
Hamburg: Im Wulff’schen FilzErnst Deutsch Theater: „Gethsemane“ (DSE) von David Hare. Regie Rüdiger Burbach, Ausstattung Beate Fassnachtvon Klaus Witzeling | Seite 43 |
Nationaltheater Mannheim: Der Ostküsten-Faust„Ratgeber für den intelligenten Homosexuellen zu Kapitalismus und Sozialismus mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (DSE) von Tony Kushner. Regie Burkhard C. Kosminskivon Ralf-Carl Langhals | Seite 44 |
München: Bewegung zum Verstummen hinMünchner Kammerspiele: „Gesäubert / Gier / 4.48 Psychose“ von Sarah Kane. Regie Johan Simons, Bühne Eva Veronica Born, Kostüme Teresa Verghovon Christoph Leibold | Seite 45 |
Zürich: Erinnern als ShowactSchauspielhaus: „Zwanzigtausend Seiten“ (UA) von Lukas Bärfuss. Regie Lars-Ole Walburg, Bühne Robert Schweer, Kostüme Nina Gundlachvon Simone von Büren | Seite 46 |
Kolumne | Seite 47 |
The importance of being earnestEin Plädoyer für die Rückkehr des Ernstes ins Theatervon Hans-Thies Lehmann | |
Stück | |
Phantomschmerz einer fehlenden GemeinschaftDer Autor und Regisseur René Pollesch im Gespräch mit Sebastian Kirschvon Sebastian Kirsch und René Pollesch | Seite 48 |
„Kill your Darlings! Streets of Berladelphia“von René Pollesch | Seite 49 |
Magazin | |
Ein polnischer KafkaWie Zittau den großen Schriftsteller und bildenden Künstler Bruno Schulz vor dem Vergessen retten willvon Johanna Lemke | Seite 58 |
Wir warten auf GodotIn einem Kooperationsprojekt von Stadttheater und Kindertheater in Neapel sehen Kinder und Eltern parallel das gleiche Stück – nur anders inszeniertvon Tom Mustroph | Seite 60 |
kirschs kontexte: Brecht kritisieren ohne ihn zu gebrauchen ist Verrat!von Sebastian Kirsch | Seite 61 |
Der zugewandte Blick ist nicht ausbildbarAlles andere schon: Vier Fragen an Bernd Stegemann, den Leiter des neuen Masterstudiengangs Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“von Bernd Stegemann und Benedict Roeser | Seite 62 |
Der HartweicheZum Tod des Schauspielers und Regisseurs Vadim Glownavon Kerstin Decker | Seite 63 |
Bücher | |
Nomadische Produktion, pulsierendes ZentrumPia Janke und Teresa Kovacs (Hg.): Der Gesamtkünstler. Christoph Schlingensief. Praesens Verlag, Wien 2011, 493 S., 41,90 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 64 |
Die UnvergleichlichePeter Warnecke und Birgit Scholz (Hg.): Jutta Hoffmann. Schauspielerin. Das Neue Berlin, 2012, 192 S., 19,95 EUR.von Holger Teschke | Seite 65 |
Tod und Renaissance des TragischenMehdi Belhaj Kacem: Inästhetik und Mimesis. Übersetzt von Ronald Voullié, Merve Verlag, Berlin 2011, 176 S., 16 EUR.von Frank M. Raddatz | Seite 65 |
Linzers Eck | Seite 67 |
Lernunfähig wie eh und jeOder ist mit Piscator das Theater doch noch zu retten?von Martin Linzer | |
Aktuell | Seite 68 |
Dresden: Kultureinrichtungen engagieren sich gemeinsam gegen Neonazisvon Johanna Lemke | |
Berlin: Sparmaßnahmen bedrohen Kulturbezirk Prenzlauer Bergvon Tom Mustroph | |
Kommentar | Seite 69 |
Kammerspiele im BreitwandformatÜber Film und Theater auf der Berlinalevon Gunnar Decker | |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 70 |
Film: Margaret und das Pferdvon Ralf Schenk | Seite 72 |
Hörspiel: Goldene Drachen, düstre Menschenvon Gerwig Epkes | Seite 72 |
In Nachbars Garten | Seite 73 |
Kunst: Splendid Isolation?von Dominic Eichler | |
Musik: Beschallte Raumtiefenvon Ulrike Rechel | |
Aktuell | Seite 76 |
PremierenMärz 2012 | |
Autoren | Seite 79 |
Impressum | Seite 79 |
Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Stefan Schütz?von Frank M. Raddatz und Stefan Schütz |
Etel Adnan
Sebastian Baumgarten
Gunnar Decker
Kerstin Decker
Dominic Eichler
Dorte Lena Eilers
Gerwig Epkes
Tina Fibiger
Ralph Hammerthaler
Rolf C. Hemke
Christian Horn
Ulrich Khuon
Sebastian Kirsch
Ralf-Carl Langhals
Sewan Latchinian
Hans-Thies Lehmann
Christoph Leibold
Johanna Lemke
Martin Linzer
David Marton
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
René Pollesch
Frank M. Raddatz
Ulrike Rechel
Benedict Roeser
Ralf Schenk
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