Heft 06/2015
Hasta la vista
Bierbichler, Fiebach, Kuttner, Quiñones, Vanackere. Ein Brennpunkt zur Neubesetzung der Berliner Volksbühne
Broschur mit 112 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
- Inkl. Insert Tanzquartier Wien und stück labor basel
Bye-bye Baal. Als Frank Castorfs Version von Bertolt Brechts „Baal“ beim diesjährigen Berliner Theatertreffen letztmals über die Bühne ging (die Brecht-Erbin Barbara Brecht-Schall hatte weitere Aufführungen verbieten lassen), wehte bereits ein Hauch Wehmut durch den Saal. Soll dieses einzigartig intellektuell-sinnliche, anarcho-aufsässige Theater wirklich seine künstlerische Basis verlieren? Der Berliner Senat jedenfalls sagt Ja. Ab 2017 soll der Kurator und derzeitige Leiter der Tate Modern in London Chris Dercon die Volksbühne leiten. Eine Personalentscheidung, die bei vielen für Wut und Empörung sorgte. Wir haben Künstler, Theaterleiter und -denker nach dem Wider, aber auch dem Für dieser Neubesetzung befragt. Ein Brennpunkt mit dem Schnipselvortragskünstler Jürgen Kuttner, dem Theaterwissenschaftler Joachim Fiebach, dem Schauspieler Josef Bierbichler, HAU-Chefin Annemie Vanackere und HAU-Kuratorin Aenne Quiñones.
Alles neu, alles anders? Um die Erweiterung eines alt-engen Horizonts der Volksbühne durch Aktivitäten wie Performances, Tanz, Konzerte, Film/audiovisuelle Medien könne es jedenfalls nicht gehen, schreibt Joachim Fiebach. „Genau sie ist eine ihrer Besonderheiten seit dem Antritt der Intendanz Frank Castorfs.“ Beispiel: Meg Stuart. Die US-Choreografin war von 2005 bis 2010 Artist in Residence am Haus. Astrid Kaminski hat die kürzlich 50 gewordene Künstlerin porträtiert, die mit ihren Arbeiten an großen Theaterhäusern dazu beigetragen hat, einen anderen Repräsentationsbegriff zu kreieren. Hinzu kommt eine weitere Performanceposition in diesem Heft: Willi Dorner, über dessen performative Stadtrundgänge unsere Autorin Renate Klett schreibt: „Willi Dorner macht eine Kunst, für die es keinen Namen gibt (…) Lange Körperreihen in knallbunten Outfits sind liegend, hockend, kauernd über riesige Freitreppen drapiert, markieren schmale Wege oder akkurate Zickzacklinien. (…) Die Bilder sind hintergründig, manchmal unheimlich.“ Seine Grundfrage dabei: „Wie können (Menschen) sich ihre Stadt wieder aneignen, diese Städte mit all ihren Privatisierungen und Verboten?“ Unser Künstlerinsert zeigt Szenen seiner verspielt-verrückten, dabei dezidiert politischen Arbeiten.
Mit dem Begriff des Politischen sind wir wieder bei der Volksbühne und bei einem Künstler, der in dieser Hinsicht bislang unerreichbar ist: Christoph Schlingensief. Unser Kolumnist Ralph Hammerthaler erinnert daran, dass Schlingensief einer der Ersten war, als er 1999 fünfzig Flüchtlinge aus dem Kosovo in der Volksbühne einquartieren wollte. Damals zuckte Frank Castorf noch zurück. Heute nehmen Häuser wie Kampnagel Hamburg und das Europäische Zentrum der Künste in Dresden-Hellerau Flüchtlinge auf. Ein Statement – „gegen politische Untätigkeit, die vorgestrige Rechtslage, die humanitäre Katastrophe“. Michael Bartsch sprach mit Hellerau-Leiter Dieter Jaenicke, während Ralph Hammerthaler sich mit dem Ermittlungsverfahren gegen Kampnagel- Chefin Amelie Deuflhardt befasst, die wegen „Beihilfe zum Verstoß gegen das Aufenthaltsrecht für Ausländer“ von einem AfD-Mitglied verklagt wurde. „Tja, wäre es nicht so traurig, wäre es lustig.“
Nicht reden. Realitäten schaffen. Der Schriftsteller und Theaterautor Eugen Ruge macht sich in unserer Reihe Neuer Realismus Gedanken um den umgekehrten Vorgang: Wie lässt sich durch Rede, Sprache, Erzählung im Roman und auf der Bühne der Realität wieder beikommen? Einer Realität, die durch den „Relativismus der Postmoderne“ in viele kleine „Perspektiven“ zersplitterte? Ruge schreibt: „Die Geschichte/die Erzählung/die Darstellung eines Geschehens vermittelt eine Form des Wissens, das nur durch Erzählung vermittelt werden kann. Keine Wissenschaft, aber auch keine in Szene gesetzte Statistik (…), auch keine Performance und kein Bild vermögen exakt das zu tun, was die Geschichte tut.“
Für Etel Adnan ist dies sowieso die „Essenz von Theater“: die Stimme, die erzählt. Gemeinsam mit der libanesischen Schriftstellerin gratulieren wir in diesem Heft Corinna Harfouch, die in diesem Jahr den Berliner Theaterpreis verliehen bekam. Sie sei eine Schauspielerin, schreibt Adnan, die „uns durch ihre reine Präsenz daran erinnert, dass das menschliche Tier existiert (…) Und diesem Tier steht Sprache zur Verfügung, mit ihren unendlichen Möglichkeiten.“ //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
Performancesvon Willi Dorner | Seite 4 |
Lebende RäumeDer Wiener Choreograf Willi Dorner erkundet die Spannungen zwischen Körper und Architektur – als Rückeroberung der Stadt in Zeiten schrumpfender öffentlicher Ortevon Renate Klett | Seite 8 |
Thema: Volksbühne Berlin | |
Ost-West-NachzugsgefechteDer Regisseur Jürgen Kuttner über Frank Castorfs Weltanschauungsfuror – und die ungeheure Anmaßung zu sagen: Jetzt ist Schluss! Ein Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Jürgen Kuttner | Seite 12 |
Anmerkungvon Joachim Fiebach | Seite 16 |
Event(uell)von Josef Bierbichler | Seite 17 |
Das neue Berlin?HAU-Chefin Annemie Vanackere und HAU-Kuratorin Aenne Quiñones über Geschichtsvergessenheit, unfaire Wettbewerbsbedingungen und neue Räume für neue Ideen im Gespräch mit Dorte Lena Eilersvon Dorte Lena Eilers, Aenne Quiñones und Annemie Vanackere | Seite 18 |
Kolumne | Seite 23 |
Soziale PlastikFlüchtlinge: In Hamburg ermittelt der Staatsanwalt gegen Kampnagelvon Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | Seite 24 |
Der körpereigene LärmWie die Choreografin Meg Stuart den Tanz und damit einen anderen Repräsentationsbegriff an die großen Theaterhäuser bringtvon Astrid Kaminski | |
Neuer Realismus | Seite 28 |
Die andere Art des WissensEin Plädoyer für das Erzählenvon Eugen Ruge | |
Protagonisten | |
Corinnavon Etel Adnan | Seite 34 |
Zurück auf LosFriedrich Schirmer bricht ein Tabu und kehrt dorthin zurück, wo er seine erste Intendanz übernahm: an die Württembergische Landesbühne Esslingenvon Otto Paul Burkhardt | Seite 36 |
Look Out | |
Angenehm, UngepflegtDie Wiener Performerin Barbara Kremser alias Barbara Ungepflegt entblößt Sprache und Handeln im öffentlichen Raumvon Susanne Fernandes Silva | Seite 38 |
Die ÜbertragungskünstlerinDie Regisseurin Johanna Wehner verdichtet dramatische Töne auf kompositorische Weisevon Bodo Blitz | Seite 39 |
Ausland | Seite 40 |
Frauen am Rande der MafiaDas italienische Theater entdeckt in den Aussteigerinnen krimineller Clans Bühnenfiguren, die den allmächtigen Strukturen ihres Landes die Stirn bietenvon Tom Mustroph | |
SCORES – Insert Tanzquartier Wien | Seite 43 |
The insufficiently clearNotes on the performance I Dance Therefore I Talkvon toxic dreams | |
What?— A Dialogue —von Anna Mendelssohn | |
Auftritt | |
Bautzen: See(le)nlandDeutsch-Sorbisches Volkstheater: „Mein vermessenes Land“ von Jurij Koch. Regie Lutz Hillmann, Ausstattung Miroslaw Nowotnyvon Michael Bartsch | Seite 45 |
Essen: Bei Christen daheimSchauspiel Essen: „Wir sind die Guten“ von Mark Ravenhill. Regie Hermann Schmidt-Rahmer, Bühne und Video Adrian Ganea, Kostüme Michael Sieberock-Serafimowitschvon Martin Krumbholz | Seite 46 |
Frankfurt am Main: Liddells LiebesbandeKünstlerhaus Mousonturm: „Primera carta de San Pablo a los Corintios. Cantata BWV 4, Christ lag in Todesbanden. Oh, Charles!“ (DEA) von Angélica Liddell. Regie und Ausstattung Angélica Liddellvon Shirin Sojitrawalla | Seite 47 |
Freiburg im Breisgau: Reise ins WirTheater Freiburg: „Immer noch Sturm“ von Peter Handke. Regie Thomas Krupa, Ausstattung Jana Findeklee, Joki Tewesvon Bodo Blitz | Seite 48 |
Hof: Wenig teuflischTheater Hof: „Des Teufels General“ von Carl Zuckmayer. Regie Sapir Heller, Ausstattung Ursula Gaisböckvon Michael Bartsch | Seite 49 |
Leipzig: Morbider ReigenSchauspiel Leipzig: „Splendid’s“ von Jean Genet. Regie Claudia Bauer, Ausstattung Andreas Auerbachvon Gunnar Decker | Seite 50 |
Potsdam: Am Himmel kein BlauHans Otto Theater: „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödön von Horváth. Regie Alexander Nerlich, Ausstattung Wolfgang Menardi und Sebastian Thielevon Lena Schneider | Seite 51 |
Ulm: Lasziver RauschTheater Ulm: „Die Bakchen (Pussy Riot)“ (UA) von John von Düffel nach Euripides. Regie Andreas von Studnitz, Ausstattung Mona Hapkevon Björn Hayer | Seite 52 |
stück labor basel | |
Erinnern als SchreibprozessDer Autor Wolfram Höll über sein neues Stück „Vom Verschwinden vom Vater“ und seine Entscheidung gegen einen Stückabdruck im Gespräch mit Simone von Bürenvon Simone von Büren und Wolfram Höll | Seite 55 |
Fahrlässigkeit am künftigen IchDie Autorin Katja Brunner über ihr Stück „geister sind auch nur menschen“ im Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Katja Brunner | Seite 56 |
geister sind auch nur menschenvon Katja Brunner | Seite 57 |
Geshoppter LebensentwurfDie Autorin Michèle Roten über ihr erstes Theaterstück „Wir sind selig! Oder: Oder“ im Gespräch mit Elisabeth Maiervon Elisabeth Maier und Michèle Roten | Seite 70 |
Wir sind selig! Oder: Odervon Michèle Roten | Seite 71 |
Magazin | |
Die BrückenbauerDas Festival für junges Theater Augenblick mal! in Berlin vermittelt zwischen Genres und Generationenvon Rainer Hertwig | Seite 83 |
Permanenter AusnahmezustandDer Heidelberger Stückemarkt 2015 erkundet komische, psychedelische und surreale Theatertexte – und entdeckt das Theaterland Mexikovon Otto Paul Burkhardt | Seite 84 |
Alphorn und AkkordeonWie die schweizerisch-russische Koproduktion „Alle Vögel sind schon da“ vom historisch Grotesken zum Ernst der politischen Gegenwart kommtvon Thomas Irmer | Seite 85 |
Luftige FestungBeim Dance Umbrella Festival in Johannesburg verwirbelt Constanza Macras’ „On Fire“ afrikanische Kulturtraditionen mit deren Zerstörung und Ausverkaufvon Renate Klett | Seite 86 |
Die Stimme der Beautiful Non-Violent Anarchist Revolution ist verstummtZum Tod von Judith Malinavon Kathrin Tiedemann | Seite 88 |
kirschs kontexte: „Wo er verjagt ist, bleibt die Unruh’“Zum „Lob des Schleppers“ von andcompany&covon Sebastian Kirsch | Seite 89 |
Die AutorenvillaWährend der zwölf Jahre als Intendant am Zürcher Theater Winkelwiese hielt Stephan Roppel an tradierter Autorschaft fest – und hat damit eine neue Generation Schweizer Gegenwartsdramatiker aufgebautvon Andreas Tobler | Seite 90 |
Feier des GesprochenenDer 64. Hörspielpreis der Kriegsblinden geht 2015 an das Liquid Penguin Ensemblevon Thomas Irmer | Seite 91 |
Medea in New YorkFalk Richter über die „Mid-Career Retrospective“ von Björk im New Yorker Museum of Modern Artvon Falk Richter | Seite 92 |
Ein Puzzle namens ExistenzDas Kontrapunkt-Festival im polnischen Szczecinvon Mehdi Moradpour | Seite 93 |
Nicht unmöglich genug!Samuel Beckett: Ein Unglück, das man bis zum Ende verteidigen muß. Briefe 1941–1956. Hg. von George Craig, Martha Dow Fehsenfeld u. a. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 819 S., 45 EUR.von Holger Teschke | Seite 94 |
Jetzt reicht’s!Urbane Interventionen Istanbul. Learning from Gezi? Hg. von Friedrich von Borries, Moritz Ahlert und Jens-Uwe Fischer. Merve Verlag, Berlin 2014, 208 S., 16 EUR.von Tom Mustroph | Seite 95 |
Im Netz des SchweigensKatja Brunner: von den beinen zu kurz. Hörspiel. Regie Erik Altorfer, Produktion WDR 2014, Der gesunde Menschenversand GmbH, Luzern 2014, Audio-CD.von Cathrin Siegler | Seite 95 |
Aktuell | Seite 96 |
Meldungen | |
Aktuell: in nachbars garten | |
Film: Verlorene Generationvon Ralf Schenk | Seite 98 |
Literatur: Identitätskaleidoskopvon Katrin Schuster | Seite 98 |
Kunst: Gedankenroulettevon Ute Müller-Tischler | Seite 99 |
Musik: Leises Fernwehvon Ulrike Rechel | Seite 99 |
Aktuell | Seite 100 |
PremierenJuni 2015 | |
TdZ on Tour | Seite 102 |
TdZ on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 103 |
Gespräch | Seite 104 |
Was macht das Theater, Dieter Jaenicke?von Michael Bartsch und Dieter Jaenicke |
Etel Adnan
Michael Bartsch
Josef Bierbichler
Bodo Blitz
Katja Brunner
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Willi Dorner
Dorte Lena Eilers
Susanne Fernandes Silva
Joachim Fiebach
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Rainer Hertwig
Wolfram Höll
Thomas Irmer
Dieter Jaenicke
Astrid Kaminski
Sebastian Kirsch
Renate Klett
Martin Krumbholz
Jürgen Kuttner
Elisabeth Maier
Anna Mendelssohn
Mehdi Moradpour
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Aenne Quiñones
Ulrike Rechel
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