Protagonisten
Die Reifeprüfung
Als die Schauspielerin Inga Wolff nach Rostock kam, war klar: Dies ist der seltene Fall, da das Natürliche auf besondere Weise artistisch wirkt
von Gunnar Decker
Seltsam, dass wir uns gerade im Café Paula in der Gerhart-Hauptmann-Straße treffen. Der Straßenname klingt schon mal so, als ob die Rostocker Sinn für Kultur hätten. Aber ob das so ist, scheint im Moment gerade sehr die Frage. Ich bin mit dem Rostocker Volkstheater aufgewachsen, in der Zeit, als es vom Potentaten Hanns Anselm Perten geführt wurde. Von selbigem schrieb Heiner Müller: „Perten war ein übler Typ, ein Paranoiker und Intrigant, aber für Peter Weiss und auch für Hochhuth eine Art Vater. Sie wurden hofiert von ihm und er hatte den reichsten, den vielfältigsten Spielplan. Die Aufführungen waren das Letzte.“ Dass das so war, bestreiten nicht wenige Rostocker.
![Foto Johannes Zacher](http://assets.theaterderzeit.de/img/Content/33375/SZENEN-EINER-EHE_Inga-Wolff-als-Marianne_Johannes-Zacher(9)_Publik_thumb.jpg)
Aber darüber kann ich mit Inga Wolff schon mal nicht reden. Denn sie ist zwar in Warnemünde und Rostock aufgewachsen, aber im Volkstheater ist sie nie gewesen. Oder vielleicht doch, einmal zum Weihnachtsmärchen, so genau weiß sie das nicht mehr. Schon seltsam, dass es nach kaum einer Spielzeit von Sewan Latchinian am Volkstheater fast keine Inszenierung gibt, bei der sie nicht mitspielt – und noch in Nebenrollen herausragt: „Ingrid Babendererde“, „Der Geizige“, „Wie im Himmel“, „Stella“, „Nathan der Weise“, „Szenen einer Ehe“ und seit kurzem auch in „Ein Volksfeind“. Weil es dort keine passende Rolle für sie gab, spielt sie eben den Redakteur Hovstadt als weiblich schrille Untergeherfigur, mit blauen Haaren, ständig juckenden Augen, die sie kaum je aufhört zu reiben, in Minirock und mit aufreizend künstlichem Busen. Inga Wolff fiel schon in den zehn Jahren auf, die sie in Senftenberg spielte – und als dann die 36-Jährige mit Sewan Latchinian nach Rostock kam, war allen, die sehen und hören konnten, sofort klar: Dies ist der höchst seltene Fall, da das Natürliche auf besondere Weise artistisch zu wirken vermag. Gab es das am Volkstheater schon mal? Vielleicht zu der Zeit, als die junge Käthe Reichel hier bei Besson spielte oder es die Brecht-Schauspielerin Else Wolz nach Rostock verschlagen hatte.