Protagonisten

„Ausm Bauch – und ehrlich“

Die Schauspielerin Maike Knirsch vom Thalia Theater Hamburg im Porträt

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Maike Knirsch in der Inszenierung von Thomas Köcks „Paradies“ in der Regie von Christopher Rüping am Thalia Theater. Foto Krafft Angerer
Maike Knirsch in der Inszenierung von Thomas Köcks „Paradies“ in der Regie von Christopher Rüping am Thalia Theater. Foto Krafft Angerer

Spiel darf so ziemlich alles. Spiel ist eine Erlaubnis, von der Romantik ausgestellt: Mag das Leben entgeistert oder gebieterisch glotzen – wir schauen trotzdem so in die Runde, als gäbe es noch eine Welt woanders. Es gibt sie ja tatsächlich. Überall dort, wo der Mensch erfährt, was mit ihm – und unverwechselbar nur mit ihm! – gemeint sei. Dort, wo er erfährt, auf welche Weise er zu sich selbst kommen kann.

Maike Knirsch sitzt mir in einer der Proberäume des Thalia Theaters Hamburg gegenüber, in der Altonaer Gaußstraße, und worüber wir auch sprechen – ihre Erzählung ist: Frage, Prüfung. Ist Suche nach jener Welt woanders; tastend wirkt sie, drängend, bei gleichzeitiger Vorsicht, sie könne bei ihren Selbst- und Berufserklärungen nur immer bei den falschen Worten landen, bei Worten, die zu forsch, zu eindeutig sind. Zugriffe mit Zögern. Besitznahme mit Bedacht.

Im Dezember 2021 erhielt die gebürtige Stendalerin den Boy-Gobert-Preis der Hamburger Körber-Stiftung. Juryvorsitzender Burghart Klaußner: „Maike Knirsch bringt das Kunststück fertig, ganz im Moment zu spielen und ihrer Figur zugleich mit einem wohlwollenden Lächeln beim Spielen zuzusehen.“ Und dann stand die 26-Jährige auf der Bühne, in einer Gemütsmischung aus erkennbarer Aufregung und ebenso sichtbarer Souveränität, sie blickte lange in den Saal, und man begriff in diesem Moment Ewigkeit, in dieser Ewigkeit von Moment, was Kafka als einen Kern von Schauspiel bezeichnete: „diese Frechheit, sich anschauen zu lassen“. Maike Knirsch schaute ins Publikum der Preisverleihung und gab einen Monolog aus Christopher Rüpings Inszenierung „In Sachen J. Robert Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt. Sie hatte den Hauptankläger des US-Atomwissenschaftlers 2019 am Deutschen Theater Berlin gespielt.

Oppenheimer. „Vater“ der Atombombe. Nach Jahren sitzt der Physiker zum Verhör in der US-Atomenergie-Behörde. Seine Kontakte zu Kommunisten, die Distanzhaltung zur Wasserstoffbombe – ist er als Geheimnisträger noch akzeptabel? Maike Knirschs Behördenanwalt nennt ihn einen Verräter an der Zukunft. In der das Tabula rasa angesagt ist – für einen grundlegenden Neuanfang. Die Schauspielerin: leise und selbstbeherrscht, geradezu verständnisinnig. So lauernd sanft. Aber in der Selbstbeherrschung liegt ein Keim zum Beben. Und der bricht durch. Die Hände schlägt sie plötzlich vors Gesicht, als erschrecke sie selber vor dem, was jetzt an Worten folgt. Aus Erschrecken wird Ergötzen. Der Oppenheim-Ankläger schreit, zischt, röhrt sich – atemberaubend expressiv – in ein modernes Beschleunigungsmanifest hinein, das uns gleichsam Zündungen ins Gewebe drücken möchte: Technik als Gott des Rausches, der alle Hemmungen vor totaler Vernichtung wegpeitscht.

Die Schauspielerin in Stimme und missionarischem Schwung der Arme: urplötzlich aggressiv wie ein Urfluchdrall. Eine gnadenlose Seherin: der Mensch, der einst mit der Maschine spielte, wird bald nur noch ein Spielzeug der Maschine sein – und er nennt’s noch immer Leben? Ein Hauch „Blade Runner“. Horror, der die Visionen eines Orwell übersteigen könnte. Offener Himmel? Offener Abgrund. „Wollt ihr das totale Engineering?“, fragte vor Jahren Botho Strauß. Ja!, pulst dieser Monolog dämonisch. Es gibt das gängige Wort von der Gewinnausschüttung, Maike Knirsch betreibt Angstausschüttung, als sei Menschenverachtung eine Nebenart der Anmut. Her mit Atemluft!

Bei dieser Boy-Gobert-Preisverleihung hatte Maike Knirsch einen Beweggrund für die Präsentation ihres Ankläger-Monologs genannt, der wahrlich einer Konfession gleichkommt: „Ich weiß noch immer nicht, was ich von diesem Text halten soll.“ Das bedeutet: Schauspiel als Hilfeersuchen, Darstellung als Bitte um Energiezufuhr aus dem Publikum. Senden und Empfangen als Kopplung. Kaum definitiv zu fassen, aber jetzt, in unserem Gespräch, kommt die Schauspielerin wahrlich in Denkfahrt: „Es geht darum, dass ich in eine Gestalt hineinfinde, aber auf verstärkte Weise doch ich selber bleibe. Also: sich spielend von sich selber entfernen, aber erreichen, dass da doch auch mehr und mehr Maike zu spüren ist.“ Anverwandlung, die mehr ist als Verwandlung. Sie lacht. Sie will nicht theoretisieren, sie will praktisch bleiben. „Ich will in die Widersprüche rein, in das, was mir selber vielleicht so gar nicht entspricht. Ich muss eine Konzentration entwickeln, die der Figur entgegenkommt, ich muss die Figur in mir aushalten.“ Und sie spricht davon, „Luft ranzulassen“, damit Zuschauer andocken können. „Dann aber wieder: Punkte setzen und Ansagen machen!“ Klarheit! Letztlich heißt Spiel: eine „gewisse Irritation“ zu organisieren. Die durch die Proben und durch die Vorstellungen gerettet werden und nicht im Festgezurrtsein enden möge.

Sie denkt an erste Zeiten im Beruf. „Ich stand in der Bühnengasse und wartete auf meinen Auftritt. Es war im Stück ,Auerhaus“. Tolle Proben waren das, mit tollem Einsatz, und jetzt steh ich da, und mir kommt plötzlich alles rundum so matt vor, so gedimmt, so gelähmt. Gleich muss ich raus, Energie ist nötig von null auf hundert. Und das in dieser flauen Atmosphäre. Wie schaff ich das?“ So wächst etwas wie produktive Selbstbezogenheit. „Warte auf nichts, nimm die Situation, nimm nichts als gegeben, fass dich an deinen Schopf, zieh!“ Wieder lacht sie.

Wie Spiel also sein möge? „Ausm Bauch raus“, sie macht eine Pause, „… und ehrlich.“ Ehrlich? Wo jede erzählte Geschichte doch lügt. Kunst begann nicht mit dem Kind, das aus dem Wald des Neandertals gerannt kam und erzählte, ein wirklicher, richtiger Wolf sei hinter ihm her. Kunst begann mit dem Kind, das aus dem Wald gerannt kam und erzählte, ein Wolf sei hinter ihm her – und den Wolf gab es gar nicht. Nun gab es ihn, und es war schrecklich, und es war gut. Alles, was echt ist, ist immer auch falsch. Und umgekehrt. Die vorhin besprochene Kopplung.

Maike Knirsch erinnert sich: Ihre Mutter, Kindergärtnerin in Stendal, spielte in der jährlichen Märchenaufführung in der Turnhalle das Schneewittchen, biss in den giftigen Apfel und fiel um. „Ich war Zuschauerin, wollte durchs Absperrband, hatte Angst um meine Mutter, durfte nicht zu ihr, man beruhigte mich mit Gummibärchen. Eine banale Szene, die mich nicht losließ: Ich spielte fortan, ich biss regelmäßig in einen Apfel und fiel um.“ Auf der Bühne so lügen, dass man erfährt: Es geht nicht um Wahrheit, aber um Wahrhaftigkeit. „Theater spielen, aber kein Theater machen. Oder: den Leuten etwas vormachen, damit wir alle uns nicht mehr so viel vormachen lassen.“

Es gibt viele Wege zur Bühne. Maike Knirsch ist ein Beispiel für den Impuls, der aus Theaterjugendklubs erwächst. Junges Theater der Altmark und Junges DT – ihre ersten Universitäten. „Man lernt ja mit der Zeit, sich in Beziehung zu allem zu setzen, mit Bedingungen zurechtzukommen, ja, auch sich zu relativieren. Aber in Stendal hat Theaterpädagoge Robert Grzywotz erst mal Feuer in uns gelegt, hat krasse Sachen gemacht, er ist ein Tanzvirtuose, er hat uns rausgeholt aus dem Gewöhnlichen des Alltags. Bühne, das war: He, hier bin ich, ich bin wach, ich will gesehen werden! Das war ein herrlicher Kontrast zu dem, was man in der Jugend oft übers Theater denkt: Fortsetzung des Deutschunterrichts mit den gleichen Mitteln – voll langweilig.“

Auf die Ernst-Busch-Hochschule geht Maike mit großem Respekt vor deren Renommee. Auch Bangen ist dabei. Sie atmet durch, atmet auf: Die Schule des Robert Grzywotz hat sie bestens trainiert für alle Arten der Intensität. Maike Knirsch hatte zur rechten Zeit den richtigen Inspirator gefunden, aus Zufall wurde Fügung – deren Anziehungskraft sich als größer erwies als die Perspektive Leichtathletik und Leistungssport. Noch während des Studiums spielt sie dann am Jungen DT, wird Ensemblemitglied des Deutschen Theaters, arbeitet in der Schumannstraße mit Nora Schlocker, Jette Steckel und Armin Petras zusammen. Seit der Spielzeit 2020/2021 ist sie nun am Thalia Theater.

Am melancholischsten stimmen Preise fürs Lebenswerk: Sie sind für Künstlerinnen und Künstler eine Art Schlussrunden-Schmuck. Die Abschieds-Gala. Maike Knirsch erhielt den Boy-Gobert-Preis im Grunde auch fürs Lebenswerk – das aber horizonteweit noch vor ihr liegt. Die Aufbruchs-Gala. Derzeit arbeitet sie wieder mit Christopher Rüping zusammen, Ende April erlebt „Brüste und Eier“ von Mieko Kawakami seine Uraufführung. Das Stück wird nach dem Familienbild der Moderne fragen. Was geht verloren, was geht aus Verlusten hervor? Maike Knirsch fragt sich das auch in Richtung ihres Lebens. Welche Verantwortung hat ihre Generation im Brodeln der Strukturen? „Mich beschäftigt das sehr: die Abhängigkeit, der man als Schauspielerin ausgesetzt ist. Wo sage ich Nein, wo sage ich Ja? Wie wehre ich mich dagegen, als Typ geparkt zu werden?“

Am Deutschen Theater gearbeitet zu haben, empfindet sie als Glück. Es war: Jugend. Die Suchbewegung aber muss weitergehen. Deshalb Hamburg. Sie wünscht sich zwischen den Generationen „Konflikt, ja, vor allem aber aufrichtige Begegnungen.“ Ensemble, ein angestaubter Begriff? „Nein, für mich gewisser­maßen das Basislager der gemeinsamen Expedition. Es ist die ­Familie, die zu einer Produktion zusammenkommt und sich ­irgendwann wiederfindet.“

Sie ist eine Schauspielerin, die sich wohl in einen Brecht werfen könnte, als sei es Schiller. Bei ihr, so sieht es aus, will ein Ausdruck an den Punkt kommen, da er explodieren darf. Und in gleichem Maße kann sie – bis zum Augenzwinkern – ein Still­leben bevölkern. Ihr Stil: Erkenntnisempfindung, wenn es denn so etwas gibt. Wenn sie mit ihrem Fahrrad aus Hamburg-Ottensen in die Gaußstraße zur Probe fährt, steuert sie nach einer kleinen Abfahrt auf dem Gelände immer unmittelbar auf die Schiene des Fahrradständers zu. Schnell und zielsicher. Zack! Das letzte kleine Stück Berechnung vor dem Schritt in diese farbige Welt woanders. //

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