Recherchen 125
Freies Theater
Die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960 – 2010)
von Henning Fülle
Paperback mit 454 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-95749-076-6
- Die Geschichte des Freien Theaters 1960 - 2010
Weltweit ebenso einzigartig wie das „System“ der Stadt- und Staatstheater in Deutschland ist das Paralleluniversum des Freien Theaters. Über dessen Bedeutung gibt es allerdings hauptsächlich viele Meinungen anstelle fundierter Kenntnisse.
Henning Fülles Forschungsarbeit analysiert erstmals die Entwicklungsgeschichte des Freien Theaters in Westdeutschland quellenkritisch anhand von Konzeptionen, Selbstverständigungen und Strukturen seit den 1960er Jahren. „Freie Gruppen“, „Freie Szene“ und „Freies Theater“ werden als historische Formen zeitgenössischer Produktionsweisen, Dramaturgien und Ästhetiken der Theaterkunst gezeigt. Mit deren Herausbildung entsteht jenes Innovationspotenzial, das auch im deutschen Theater die Überwindung der Traditionspflege bürgerlicher Hochkultur ermöglicht.
Freies Theater zeigt sich damit in seiner kulturpolitischen Bedeutung als spezifische Form später Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft, mit der die internationalen Entwicklungen in den darstellenden Künsten seit dem Zweiten Weltkrieg nachvollzogen werden.
Kulturpolitische Forschung zum Freien Theater
Zum Geleit
Die Kulturlandschaft der Bundesrepublik Deutschland ist geprägt von Fürstentum und Bürgergesellschaft, die dazu beigetragen haben, dass Kunst in ihrer Institutionalisierung die Infrastruktur bestimmt. Kulturpolitik ist deshalb damit beschäftigt, Museen, Bibliotheken und Konzerthäuser zu fördern, indem sie diese dauerhaft öffentlich finanziert. Das trifft insbesondere auf das System der Darstellenden Künste zu. Neben dem Stadt- und Staatstheater hat sich aber in Westdeutschland der 1960er Jahre auch ein Parallelsystem mit Freien Theatern entwickelt, das seit über fünf Jahrzehnten die Entwicklung der Dramatik mitbestimmt.
2007 empfiehlt deshalb die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages in ihrem Schlussbericht: „Zur Zukunftssicherung der Theaterlandschaft in Deutschland bedarf es einer kritischen Neubetrachtung, konzeptioneller Überlegungen und kompetenten gemeinsamen Handelns. Es geht nicht um ein Entweder-Oder, um Stadttheater oder Freies Theater, es geht um ein sinnvolles Nebenund vor allem Miteinander.“ Diese kulturpolitische Aufgabe scheint Henning Fülle motiviert zu haben, sich der Genese dieses Phänomens zu widmen, zu untersuchen, was die Besonderheiten des Freien Theaters sind und wie sie sich in Beziehung setzen zur bestehenden Theaterstruktur. Er konstatiert in diesem Zusammenhang ein Versagen der Kultur - politik, befragt die Konvergenz der Systeme, referiert die feuilletonistischen Diskurse und blickt kritisch auf die theaterwissenschaftliche Perspektive. „Die hier dargestellten Forschungen zielen auf Konzeptionen, Strukturen und Institutionen des Freien Theaters, deren Heraus - bildung, Veränderungen und ihre Bedeutung im Kontext der Theaterlandschaft der Bundesrepublik“, schreibt Fülle.
Er hat die einschlägige Literatur zur Theatergeschichte gesichtet, vor allem hat er das Magazin Theater heute als westdeutsche Instanz der Theaterkritik Monat für Monat, Jahrbuch für Jahrbuch ausgewertet. Er hat öffentliche und private Archive durchforstet und Interviews mit Experten geführt. Sein umfangreiches Literaturverzeichnis umfasst nicht nur Bücher und Zeitschriften, graue Literatur und Tagungsmaterialien, auch im Internet hat er Dokumente aufgespürt, die Eingang gefunden haben in Analyse und Reflexion. So beeindruckt vorab die Zitation mit weit mehr als Tausend Quellenangaben, Auswertungen und weiteren O-Tönen zum Gegenstand. Auffällig ist zuallererst die Diversität der Erscheinungsformen zu allen Zeiten. Auffällig ist die unterschiedliche Bedeutung und Bewertung des Freien Theaters. Auffällig auch, dass es derzeit kein bundesweit einheitliches Verständnis von Freien Theatern zu geben scheint. Die Erwartungshaltung ist deshalb gegenüber der wissenschaftlichen Untersuchung besonders groß und der Erkenntnisgewinn der Forschungen deshalb auch dahingehend zu bewerten, wie Entwicklung, Status und Perspektive des Gegenstandes in den kulturpolitischen Diskurs Eingang finden und die Theaterpolitik mit Reformvorschlägen bereichert wird.
Die Arbeit wird mit vielerlei Beispielen belegt, die Entwicklungsschwerpunkte herausgreifen, Einzelaspekte zur Diskussion und relevante Theatergruppen in den Mittelpunkt stellen, Positionierungen und Festivals, aber auch Inhalte und Ästhetiken von Theaterarbeit als Wegmarkierungen offenbaren. Der Materialreichtum zeugt von erfolgreichen Recherchen, die Kenntnisse der unterschiedlichen Praxen sind von großer Bedeutung für die Gesamtschau. Dankbar liest man auch einzelne wichtige Dokumente, die die Geschichte der kulturpolitischen Auseinandersetzung nachvollziehbar machen.
Fülles Forschungen sind in verschiedener Hinsicht eine Gratwanderung: so etwa das wiederholte Rekurrieren auf Theater heute als herausragende Quelle des bundesrepublikanischen Nachkriegstheaters. Offensichtlich sind es nur eine Handvoll Kritiker, versammelt von einem autokratisch waltenden Herausgeber. Das bildungsbürgerliche Theater dieser Zeit prägte sicherlich nicht nur das Magazin, sondern umgekehrt beeinflusste das Feuilleton auch die Macher am Stadt- und Staatstheater. Eine weitere Gratwanderung ist jene, die sich in der Analyse des Freien Theaters mit der Kritik am System des Theaters und der Kritik am System der Politik beschäftigt. Ja, Freies Theater ist in erster Linie Theater jenseits der Institution, war aber zunächst wohl mehr an der Veränderung der Gesellschaft interessiert als an der Reform des Theatersystems. Denn auch das System reagierte lange Zeit gelassen auf die alternative Szene, die ja ihre eigenen Orte – auch auf den Straßen und Plätzen, bei Demonstrationen und anderen öffentlichen Anlässen – zu finden wusste. Und eine dritte Gratwanderung bestimmt die Untersuchung: Die kulturpolitische Förderung dessen, was die Beantragung von Projektmitteln und die quantitative Verbreitung des Freien Theaters betrifft. Was war zuerst – Henne oder Ei? Wurde beantragt, weil es öffentliche Mittel gab, was wurde beantragt, welche Kriterien haben welche Produktionen zu Tage gefördert?
Fülle kennt sich allumfassend aus, er ist ein kompetenter Forscher, der gleichzeitig auch immer Akteur des Freien Theaters war und ist. Die Chance nutzt er und weiß deshalb, wo Akzente zu setzen sind, was als Meilenstein zu deklarieren ist, welche Texte Relevanz haben, um auf die unterschiedlichsten Entwicklungen aufmerksam zu machen. Das macht er mit kritischer Distanz, ist dabei nie selbstgefällig oder gar nachlässig in der Beobachtung und Bewertung. Und er hat damit genügend Selbstbewusstsein, sich abzugrenzen von anderen Untersuchungen. Trotz des erheblichen Umfangs sei auch die Frage erlaubt, ob es richtig war, die Entwicklungen im Tanztheater und im Kinder- und Jugendtheater auszuklammern. An entscheidenden Stellen versucht Henning Fülle, diese Erscheinungsformen wenigstens zu erwähnen und die dortigen Impulse des Freien Theaters zu identifizieren. Auch ein anderes Desiderat ist zu befragen: Ist die Freie Szene nur ein Phänomen des Theaters? Wie ist es um die Freie Bildende Kunstszene oder um die Freie Musikszene bestellt? Waren nicht auch soziokulturelle Zentren Theaterorte, birgt nicht auch die Projektvielfalt der kulturellen Bildung Potential für eine zukünftige Theaterlandschaft? Parallelen wären noch zu entdecken, Bezüge zu benennen und Beziehungen zu analysieren.
Henning Fülle hat ein Werk geschaffen, das wirken wird! Sein Verdienst ist es, nicht eine lineare Entwicklung des alternativen Theaters beschrieben und diskutiert zu haben. Von der Freien Gruppe über die Freie Szene zum Freien Theater, das ist ein langer, facettenreicher Weg. Er hat ihn beforscht und ihn mit vielfältigen Beispielen belegt. Einerseits weist er auf die Politisierung des Theaters hin, andererseits findet er Praxen wider die Instrumentalisierung des Theaters. Er weist die Herausbildung und Stabilisierung der Eigenständigkeit von Produktionsweisen und künstlerischen Formen in Dramaturgie und Ästhetik des Freien Theaters nach. Er weiß die Spezifika, was Zielgruppenorientierung, Recherchearbeiten und Formatentwicklung betrifft, zu charakterisieren. Ihm gelingt eine Auswertung, sowohl was die künstlerische als auch die kulturpolitischen Komponenten des Freien Theaters betrifft.
Im 21. Jahrhundert ist das Freie Theater auch als Netzwerk von Produktions- und Präsentationsstätten, von internationalen Festivals und von Kooperationen angekommen. Fülle grenzt die Formate Freien Theaters von den Stadt- und Staatstheatern ab und benennt Produktionsweisen, Selbstbestimmung, Vernetzung, Zielgruppenarbeit, Qualifikationswege, Finanzierung und Formate als Merkmale. Es geht ihm aber nicht um die Zementierung des Parallelsystems Theater in Deutschland, im Gegenteil, vielmehr müsse eine Reorganisierung in Angriff genommen werden, in der die Infrastrukturen zu korrigieren seien. Er setzt auf eine umfassende gesellschaftliche Partizipation und endet sehr grundsätzlich: „Es muss diskutiert werden, ob das Theater als universalistische Zentralinstitution mit Angeboten für das gesamte gesellschaftliche Spektrum organisiert werden soll oder dezentrale Einheiten mit speziellen und niedrigschwelligen Angeboten für bestimmte Schichten und Gruppen der Bevölkerung möglicherweise geeigneter sind, Bedarfe und Nachfrage zu identifizieren und zu bedienen.“ Das klingt zunächst wie eine allzu rhetorische Formulierung. In Anbetracht der real existierenden Kulturpolitik scheint es aber durchaus wahrscheinlich, mit Fülles Untersuchungsergebnissen eine generelle Debatte anzuregen. Die Fragen sind so banal wie brisant: Welches Theater will die Gesellschaft? Wer ist die Gesellschaft? Und welche Kulturpolitik braucht die Theaterlandschaft?
Prof. Dr. Wolfgang Schneider
Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim
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Kulturpolitische Forschung zum Freien TheaterZum Geleitvon Wolfgang Schneider | Seite 7 |
Vorbemerkungvon Henning Fülle | Seite 11 |
Freies TheaterDie Modernisierung der deutschen Theaterlandschaft (1960–2010)von Henning Fülle | Seite 12 |
Prolog: Das Jahrzehnt der UnruheReformdiskurse in Theater heute (1960–1968)von Henning Fülle | Seite 42 |
Straßentheater, Agitprop, AnimationProto-theatrale Praktiken in der Politisierung der Protestbewegung (1969/1970)von Henning Fülle | Seite 85 |
Politisches VolkstheaterDie Bewegung der Freien Gruppen (1970–1975)von Henning Fülle | Seite 126 |
Alternativbewegung und GegenkulturDas Theater der Freien Szene (1976–1986)von Henning Fülle | Seite 180 |
Strukturbildung und InstitutionalisierungDas System des Freien Theaters (1986–2010)von Henning Fülle | Seite 241 |
Theater für die PostmoderneFreies Theater und die Modernisierung der deutschen Theaterlandschaftvon Henning Fülle | Seite 264 |
Epilog: Theater in der KriseDie Agenda der Kulturpolitikvon Henning Fülle | Seite 273 |
Dokumente zur Geschichte des Freien Theaters | |
Über den autoritären Geist des deutschen Theatersvon Barbara Sichtermann und Jens Johler | Seite 289 |
Zerschlagt das bürgerliche Theater!von Barbara Sichtermann, Jens Johler, Klaus Gurrek und Stefan Stein | Seite 296 |
Versuch, die Straße in die Kneipe zu transportierenvon Johannes Schenk | Seite 301 |
Versuch eines Berichtes über die pädagogische Arbeit Freier Gruppenvon Egmont Elschner | Seite 312 |
Wie man in Freien Gruppen lerntvon Egmont Elschner und Hans-Peter Cloos | Seite 316 |
Los Tros Tornados – Bei Lachen die Zähne zeigen!von Arnulf Rating | Seite 322 |
Die Drei Tornados – Ein Volkstheater?von Arnulf Rating | Seite 323 |
Die Übernahme des Theaters findet stattvon Nikola Duric und Thomas Lemke | Seite 325 |
Anmerkungen | Seite 330 |
Quellen- und Literaturverzeichnis | Seite 404 |
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Zum Autor
Henning Fülle
Weitere Beiträge von Henning Fülle
Vorbemerkung
Soul Food
„Theatre in Transformation“ – eine Konferenz in Südafrika zeigt die Theaterszene des Landes auf der Suche nach ihrer zukünftigen Rolle
Prolog: Das Jahrzehnt der Unruhe
Reformdiskurse in Theater heute (1960–1968)
Raus aus den Bananenkisten
Das Forschungsprojekt „Performing the Archive“ hat die Arbeit an einem Archiv des freien Theaters aufgenommen
Ute Rauwald, Regisseurin, im Gespräch mit Henning Fülle
Bibliographie
Beiträge von Henning Fülle finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 03/2023
Neue Dramatik
Heft 12/2022
Barbara Mundel
Stürzende Gegenwart
Heft 06/2019
Abgründe des Alltäglichen
Das Staatstheater Braunschweig
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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