Recherchen 43
Theater der Einbildung
Zur Wahrnehmung und Imagination des Zuschauers
Paperback mit 144 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-94-5
Dieses Buch ist leider vergriffen
Welche Rolle spielt die Imagination des Zuschauers im Theater? Wie lässt sich das Verhältnis von inneren und äußeren Bildern bei der Rezeption von Aufführungen bestimmen? Wovon sprechen wir überhaupt, wenn im Theater von „Bildern“ die Rede ist? Anhand von Aufführungsbeispielen so unterschiedlicher Künstler wie Laurie Anderson, Ariane Mnouchkine, Jürgen Gosch und Janet Cardiff zeigt Benjamin Wihstutz, wie die Einbildungskraft des Zuschauers jegliche Wahrnehmung im Theater prägt und als eine Art zweiter metteur en scène fungiert. Theater-Bilder, so die These, lassen sich weder auf die visuelle Wahrnehmung noch auf die Wahrnehmung der fünf Sinne reduzieren, vielmehr korrespondieren sie zugleich mit den Erwartungen, Assoziationen, Emotionen und abschweifenden Phantasien der Zuschauer, die den Bildern erst ihre Bedeutung verleihen. „Theater der Einbildung“ bezeichnet somit keine spezifische Form der Inszenierung, sondern eine grundlegend neue Perspektive auf das Theater, die das Imaginative des Zuschauers als konstitutiven Bestandteil der Aufführung begreift. Benjamin Wihstutz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“, wo er sich mit politischen Dimensionen des Ästhetischen im Gegenwartstheater auseinandersetzt.
EINLEITUNG
Es sieht so aus, als ob meine Fähigkeit, zur Welt zu gelangen, und meine Fähigkeit, mich in Phantasien zurückzuziehen, nicht unabhängig voneinander funktionieren könnten. Mehr noch: als ob der Zugang zur Welt nur die andere Seite eines Rückzuges aus ihr wäre, und als ob dieser Rückzug an den Rand der Welt nur eine Abhängigkeit wäre und nur ein anderer Ausdruck meiner natürlichen Fähigkeit, auf sie zuzugehen.
Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare1
»Sometimes I think I can smell light«
Am 19. Juni 2005 präsentierte Laurie Anderson in Berlin ihre Performance The End of the Moon2. Auf der Bühne gab es zunächst wenig zu sehen, was der Bezeichnung ›Bühnenbild‹ in einem traditionellen Sinne entsprochen hätte: Auf der linken Seite befand sich ein violetter Ohrensessel, auf der rechten eine kleine weiße Leinwand und in der Mitte ein Pult, auf dem ein elektronisches Audio-Effektgerät installiert war. Bereits vor dem Auftreten Andersons war der Raum von einer anheimelnden, fast kitschig anmutenden Atmosphäre erfüllt. Denn verteilt über die gesamte Bühne waren etwa hundert angezündete Kerzen aufgestellt, die ihn in ein stimmungsvolles, beinahe sakrales Licht tauchten.
Laurie Anderson stellte keine theatrale Figur oder dramatische Handlung auf der Bühne dar. Hingegen erzählte sie Geschichten und Phantasien aus ihrem Leben, insbesondere aus ihrer Zeit als artist-in-residence bei der NASA. Jedes Mal, nachdem sie eine längere Anekdote beendet hatte, stand sie aus dem Ohrensessel auf, nahm ihre elektrisch verstärkte Violine in die Hand und spielte eine ihrer Kompositionen. Dabei kam gelegentlich das Effektgerät zum Einsatz, das den Klang der Violine auf unterschiedliche Weise verzerrte und verfremdete. Abgesehen von dem kurzen Einsatz einer Minikamera, deren Live-Bild auf die Leinwand projiziert wurde, und dem Schein der Kerzen, bot sich in der Aufführung wenig für das Auge des Zuschauers. Der Abend war in erster Linie geprägt von der Präsenz zweier Stimmen: der Laurie Andersons und der ihrer Violine.
Denke ich heute, fast ein Jahr später, an die Aufführung zurück, mag es erstaunen, dass mir trotz dieser Dominanz des Akustischen einige Bilder der Aufführung deutlich in Erinnerung geblieben sind. Dabei handelt es sich weniger um das Bühnenbild mit den Kerzen oder dem violetten Ohrensessel. Vielmehr sind es Bilder, die nicht auf der Bühne zu sehen waren und anderen Zuschauern wohl kaum in derselben Weise in Erinnerung geblieben sind. Es handelt sich um Bilder, die aus der subjektiven Wahrnehmung der Aufführung hervorgingen, maßgeblich von der Inszenierung beeinflusst waren und doch erst im Innern Gestalt annahmen: Bilder der Imagination. So habe ich beispielsweise noch deutlich die fiktive Mondbasis vor Augen, von der Laurie Anderson erzählte. Ich sehe sie in meiner Vorstellung von der Erde aus als kleinen dunklen Punkt neben den Kratern des leuchtend-gelben Mondes. Anderson richtete an die Zuschauer die Frage, ob man den Mond anders betrachten würde, wenn die NASA tatsächlich eine Mondbasis errichtete. Wie wäre es für uns, fragte sie, wenn wir wüssten, dass Menschen vom Mond im selben Moment auf die Erde herunterblickten, in dem wir zu ihm hoch schauten? »Wouldn't it be the end of the moon, as we know it?« Zu einem anderen Zeitpunkt erzählte sie von einer Wanderung in den kalifornischen Bergen mit ihrem Hund Lolabelle, der aufgrund von ihn angreifenden Raubvögeln zum ersten Mal erkannt habe, dass Gefahr auch von oben drohen kann. Seitdem nehme er beim Laufen dieselbe unnatürliche Kopfhaltung ein wie Andersons New Yorker Nachbarn nach dem elften September. Beide hätten auf schmerzhafte Weise erfahren müssen: »They can come from the air«. Sowohl die New Yorker Nachbarn als auch Lolabelle sind mir deutlich als Imaginationen in Erinnerung geblieben. Obwohl Anderson die Gestalt ihres Hundes nicht genauer beschrieb, sehe ich ihn in meiner Vorstellung noch heute als ein größeres Tier mit beigem Fell und Schlappohren, eine Art Golden Retriever, der mit der Schnauze in der Luft über einen felsigen Kamm in den Bergen läuft und versucht, nach Raubvögeln Ausschau zu halten3.
Offenbar fehlte es der Performance nicht an ›visuellen‹ Darstellungen. Denn in der Imagination der Zuschauer wurden die von Anderson erzählten Geschichten zu Bildern. Auf diese Weise wurden die Beschreibungen ihrer Phantasien zu den Phantasien der Zuschauer. Die Einbildungskraft jedes Einzelnen inszenierte das Geschehen, die Künstlerin selbst lieferte nur das Material - die Formen und Farben der Geschichten entstanden erst in den Köpfen des Publikums. Das Theater, das hier stattfand, war kein Theater der Repräsentation - es war ein Theater der Einbildung.
Doch welchen Einfluss hatte die Art der Inszenierung auf die Imagination der Zuschauer? Deutlich wurden die erzählten Geschichten von Anderson auf der Bühne illustriert: einerseits durch ihre Wortwahl, andererseits durch ihre Stimme, ihre Musik und die Atmosphäre des Raumes. Indem sie nach jeder Geschichte auf ihrer Violine musizierte, erzielte sie zudem einen besonderen Effekt bei den Zuschauern: Die zuvor erzählten Bilder wurden akustisch in Szene gesetzt. Die Musik schien die von der Erzählung evozierten Vorstellungen klanglich auszumalen und ihnen Zeit zu geben, sich zu entfalten. Stimme und Musik öffneten auf diese Weise einen Raum des Imaginativen, in den sich die Zuschauer mit ihren Phantasien hineinbegeben konnten. Zweifellos hatten auch die Kerzen auf der Bühne einen Einfluss auf die Wahrnehmung und Imagination der Zuschauer. Nicht nur verbreiteten sie mit ihrem Licht eine intime Atmosphäre, die der beruhigenden Stimme Andersons entsprach. Auch ließ sich deutlich ihr Geruch wahrnehmen. Mit dieser Atmosphäre und den von der Erzählung hervorgerufenen Bildern schien sich ein Bilderteppich zu ergeben, der von äußeren und inneren Bildern, Worten und Assoziationen, Klängen und Gerüchen gleichermaßen geprägt war. Wo verlief hier die Grenze zwischen imaginärem und realem Raum? Inwieweit ließ sich für die Zuschauer noch differenzieren zwischen den einzelnen Sinneswahrnehmungen, zwischen erzählten und imaginierten Bildern, zwischen Subjektivem und Objektivem? Am Ende der Aufführung wurden die Zuschauer mit einem Satz der Performerin zurückgelassen, der in dieser Hinsicht zweifellos zum Nachdenken anregte: »Sometimes I think I can smell light.«
Das Riechen von Licht stellt für die meisten Menschen eine merkwürdige Vorstellung dar. Es handelt sich um eine Synästhesie - um die verknüpfte Wahrnehmung zweier oder mehrerer Sinne, die sich nach alltäglichem Verständnis nur getrennt voneinander wahrnehmen lassen. Man könnte sagen, dass sich diese Synästhesie in Laurie Andersons Performance für die Zuschauer erfahren ließ, wurden doch die Kerzen nicht allein visuell, sondern auch olfaktorisch wahrgenommen. In der Tat schien es mehr als der Duft der Kerzen zu sein, der von den Zuschauern gerochen werden konnte, vielmehr handelte es sich um eine spürbare, buchstäblich in der Luft liegende Atmosphäre, die den Raum erfüllte. Das Spüren dieser Atmosphäre ließ sich nicht auf eine Sinneswahrnehmung wie das Riechen oder das Sehen reduzieren, als Synästhesie betraf es mehrere Sinne zugleich.
Aber Laurie Anderson sagte nicht: »Sometimes I can smell light«. Sie sagte: »Sometimes I think I can smell light«. Was sollte dieses »I think« bedeuten? Offenbar war hier kein ›Nachdenken‹ gemeint, keine rationale Überlegung. Vielmehr ließe sich in diesem Fall »I think« mit »Ich meine« oder »Ich glaube« übersetzen, am treffendsten vielleicht mit: »Ich bilde mir ein«: Manchmal bilde ich mir ein, dass ich Licht riechen kann.
War das Riechen von Licht in The End of the Moon eine Einbildung? Beruhte das Spüren der Atmosphäre auf Imagination? Es wäre ein Leichtes, diese Fragen zu verneinen - ohne Zweifel waren ja das Kerzenlicht und die anderen Sinneseindrücke der Aufführung real wahrnehmbar. Bei der präsenten Atmosphäre handelte es sich weder um eine Sinnestäuschung noch um eine allein ›innerlich‹ existierende Vorstellung. Auf den zweiten Blick gestaltet sich die Antwort jedoch weitaus schwieriger. Denn die ›inneren‹, imaginierten Geschichten und Bilder der Aufführung hatten zweifellos ihren Einfluss auf das Spüren der Atmosphäre. Es ist sogar äußerst fraglich, ob sich die Sinneseindrücke diesbezüglich von den imaginativen Eindrücken trennen lassen, waren doch die Vorstellungen der Zuschauer der Hauptbestandteil der Aufführung und damit auch entscheidender Bestandteil der gespürten Atmosphäre. Aber es ist auch der Begriff ›Einbildung‹ selbst, der eine Trennung von Innen und Außen fragwürdig erscheinen lässt. Während Einbildung gewöhnlich als innere Vorstellung verstanden wird, die nicht der wahrnehmbaren Wirklichkeit entspricht, lässt sich der Begriff ebenso als Ein-bildung lesen - als Aufnehmen und Verinnerlichen von Bildern. Die Einbildung beschreibt somit ihrem Wortsinn nach bereits einen Austausch innerer und äußerer Bilder, eine Verschränkung von Wahrnehmung und Imagination, die sich nicht in Dichotomien wie innen und außen oder wahr und falsch einordnen lässt. War es nicht genau das, was sich in The End of the Moon erfahren ließ - ein Theater der Einbildung als Zusammenspiel von Innen und Außen, von Synästhesie und Imagination? Wurde die Grenze zwischen Vorstellung und Wahrnehmung, zwischen Subjekt und Objekt für den Zuschauer nicht selbst verwischt, indem ihm der Zugang zu einem imaginativen Zwischen ermöglicht wurde?
Laurie Andersons Formulierung scheint genau ein solches Zwischen anzudeuten: »Sometimes I think I can smell light«. Nicht nur impliziert dieser Satz ein Anzweifeln einer Trennung der Sinne, auch lässt er die Gegenüberstellung von Wahrnehmung und Denken und damit auch von Körper und Geist fraglich erscheinen. Nun fiele es nicht schwer, diese Aufhebung der Dichotomien, die sich für den Zuschauer hier offenbar erfahren ließ, auf die Art und Weise der Inszenierung zurückzuführen. Bei The End of the Moon handelte es sich um eine Performance, die sich diesbezüglich kaum mit einem ›Theater der Repräsentation‹ vergleichen ließe - man könnte also meinen, das ›Theater der Einbildung‹ sei eher ein Sonderfall. Aber handelt es sich bei diesem erfahrbaren Zwischen, bei dieser Verschränkung von Imagination und Wahrnehmung tatsächlich um eine Ausnahme? Oder ist dieses komplexe Spiel der Einbildung vielmehr ein grundlegendes Prinzip, das jeder Zuschauerwahrnehmung, womöglich sogar jeder Wahrnehmung zu Grunde liegt? Lässt sich in diesem Sinne vielleicht sogar jede Form des Theaters als ein Theater der Einbildung beschreiben, bei dem die Einbildungskraft Regie führt? Die Formulierung Laurie Andersons soll in dieser Hinsicht als Ausgangspunkt einer Untersuchung dienen, deren Ziel es ist, dieses komplexe Verhältnis von Imagination und Wahrnehmung des Zuschauers zu untersuchen und nicht zuletzt ein dem Theater inhärentes Potenzial aufzuzeigen, dem Zuschauer eine ästhetische Erfahrung des Imaginativen zu ermöglichen.
These, Methodik und Aufbau der Untersuchung
Die vorliegende Arbeit geht von der These aus, dass der Zuschauerwahrnehmung im Theater ein elementarer Prozess zu Grunde liegt, der sich als ›Kreislauf der Einbildung‹ beschreiben lässt. Einbildung lässt sich dabei in zweierlei Hinsicht verstehen: als ein Aufnehmen von ›äußeren‹ Bildern der Wahrnehmung einerseits und ein Entstehen und Projizieren von ›inneren‹ Bildern andererseits. In diesem Sinne soll gezeigt werden, dass sich Wahrnehmung und Imagination nicht als Gegensätze begreifen lassen, sondern in der Einbildung immer schon ineinander verflochten sind. Diese Einbildung ist synästhetisch, da sowohl die Vorstellungen einerseits als auch die Wahrnehmungen andererseits auf einem verkörperten Wissen verknüpfter Sinne beruhen. In einer dritten Lesart lässt sich ›Einbildung‹ mit Sinnestäuschung übersetzen, was die Frage nach dem Verhältnis von Wahrem und Falschem in der Zuschauerwahrnehmung impliziert. Auch diesbezüglich lässt sich zeigen, dass sich die Erfahrung des Zuschauers nicht einer ›Seite‹ zuordnen lässt, das Imaginative sich hingegen immer in einem Zwischen abspielt, das jeder dichotomischen Gegenüberstellung widerspricht. Der Titel des Buches »Theater der Einbildung« vereint somit alle drei Lesarten von ›Einbildung‹ in einem gemeinsamen Begriff, der dazu dienen soll, das komplexe und facettenreiche Verhältnis von Imagination und Wahrnehmung im Theater zu untersuchen.
Zweifellos lässt sich die These der Untersuchung nicht auf das Theater beschränken. Sie führt auf direktem Wege zu weitreichenden philosophischen Fragen, die das Verhältnis von Einbildungskraft und Wahrnehmung allgemein betreffen. Dabei besteht die Gefahr, in ontologische Grundsatzdiskussionen abzuschweifen und die eigentliche These der Arbeit aus den Augen zu verlieren - man könnte sagen, selbst zum Spielball der Einbildungskraft zu werden. Eine theaterwissenschaftliche Arbeitsweise bietet in dieser Hinsicht den Vorteil, mit Hilfe von Aufführungsbeispielen immer wieder zum Theater zurückzukehren und die philosophischen Überlegungen somit an konkrete Erfahrungen des Zuschauers zu binden. Meine hier verwendete Methode der Aufführungsanalyse geht mithin weniger von einer semiotischen als von einer phänomenologischen Herangehensweise aus, die weitgehend auf gesetzte Vorannahmen verzichtet und versucht von der Erfahrung und deren Beschreibung selbst auszugehen. Da die Wahrnehmung, insbesondere jedoch die Imagination des Zuschauers in hohem Maße subjektiv geprägt ist, verlangt eine solche Herangehensweise auch die Einbeziehung der Introspektion. Angesichts des Untersuchungsgegenstandes wäre es wenig sinnvoll, allein aus Gründen einer (ohnehin konstruierten) Objektivität subjektive Vorstellungen und Erfahrungen aus der Untersuchung auszuschließen. Im Gegenteil liegt in der subjektiven Perspektive des Zuschauers eine besondere Chance, das Theater der Einbildung ›von innen heraus‹ zu untersuchen und auf diese Weise zu Schlüssen zu kommen, die sich verallgemeinern lassen.
Die vier Kapitel der Arbeit bauen inhaltlich aufeinander auf, wobei sie begrifflich und thematisch jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Im ersten Kapitel steht die Entwicklung eines Bildbegriffs für das Theater im Zentrum der Untersuchung. Dabei eignet sich für die Beschreibung der Bildwahrnehmung insbesondere der Begriff der Synästhesie, da sich Theaterbilder, wie sich zeigen wird, nicht allein auf ihre Visualität beschränken lassen, sondern alle Sinne zugleich ansprechen. Obwohl der Begriff der Einbildung selbst in diesem ersten Teil des Buches noch nicht näher beleuchtet wird, deuten die Überlegungen zum Bildbegriff bereits darauf hin, dass sich Theaterbilder nur mit Hilfe der Imagination wahrnehmen lassen. Daran anknüpfend wird im zweiten Kapitel der Fokus auf die Einbildungskraft des Zuschauers gelegt. Dabei wird deutlich werden, dass die Imagination in all ihren Spielarten konstitutiv ist für die Zuschauerwahrnehmung. Neben der wichtigen Funktion eines Abschweifens von der Wahrnehmung einerseits und einem Angleichen der Vorstellungen andererseits geht es dabei auch um die Erwartungen und Gefühle der Zuschauer, die jede Wahrnehmung einer Aufführung begleiten. Die beiden ersten Kapitel führen zu der Frage nach der Verbindung von Synästhesie und Einbildungskraft, die im dritten Kapitel unter Heranziehung dreier philosophischer Texte bearbeitet werden soll. Die Lektüre von Aristoteles, Kant und des ungarischen Philosophen Melchior Palágyi zeigt, dass dieser Zusammenhang keineswegs allein die Zuschauerwahrnehmung im Theater betrifft, vielmehr jede Wahrnehmung bereits mit dem Wirken einer - im Zwischen angesiedelten - verkörperten Einbildungskraft verbunden ist, die den Kreislauf der Einbildung überhaupt erst ermöglicht. Die These der Untersuchung wird somit auf eine philosophische Ebene gehoben und zugleich theoretisch fundiert. Das letzte Kapitel knüpft an diesen philosophischen Exkurs an und führt zurück zur Erfahrung des Zuschauers. Hier gilt es, das besondere Potenzial des Theaters der Einbildung hinsichtlich einer ästhetischen Erfahrung des Imaginativen zu untersuchen. Diese lässt sich als liminale Erfahrung begreifen, bei der sich für den Zuschauer durch die Konfrontation mit Phänomenen ›synästhetischer Einbildung‹ die Grenzen zwischen Wahrem und Falschem verwischen. In dieser Hinsicht vermag die ästhetische Erfahrung des Imaginativen dem Zuschauer den Zugang zu einer ›Heterotopie der Sinne‹ zu ermöglichen, die grundlegende Wahrnehmungsmuster unserer Kultur in Frage stellt. Am Ende des Buches steht mit dem Begriff der ›Dichte der Welt‹ ein Bezug zu Maurice Merleau-Pontys Fragment Das Sichtbare und das Unsichtbare, ohne dessen Lektüre die hier geäußerten Gedanken nicht hätten entwickelt werden können.
1 Merleau-Ponty 1994a, S. 24.
2 Die Aufführung fand im HAU 1 (Hebbel am Ufer, Berlin) statt.
3 Umso erstaunter war ich, als ich im Internet Monate nach der Aufführung zufällig auf ein Foto von Laurie Anderson mit der wirklichen Lolabelle im Arm stieß: Sie hatte so gut wie nichts gemein mit der Hündin, die ich mir vorgestellt hatte. Lolabelle war in Wirklichkeit ein kleiner, schwarz-weiß gefleckter Rat Terrier.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Einleitungvon Benjamin Wihstutz | Seite 7 |
I. KAPITEL DAS THEATERBILD ALS SYNÄSTHESIE | |
Das Theaterbild als Synästhesievon Benjamin Wihstutz | Seite 16 |
Grenzen der Visualitätvon Benjamin Wihstutz | Seite 19 |
Synästhesienvon Benjamin Wihstutz | Seite 27 |
Ein Bildbegriff für das Theatervon Benjamin Wihstutz | Seite 36 |
II. KAPITEL IMAGINATION IM THEATER | |
Imagination im Theatervon Benjamin Wihstutz | Seite 50 |
Erwartung als Vorstellungvon Benjamin Wihstutz | Seite 56 |
Das Abschweifen der Phantasie und das Angleichen der Imaginationvon Benjamin Wihstutz | Seite 62 |
Einbildung der Gefühle oder gefühlte Einbildung?von Benjamin Wihstutz | Seite 71 |
III. KAPITEL SYNÄSTHESIE UND EINBILDUNGSKRAFT | |
Synästhesie und Einbildungskraftvon Benjamin Wihstutz | Seite 80 |
Sensus communis und phantasia bei Aristotelesvon Benjamin Wihstutz | Seite 82 |
Synthesis und Einbildungskraft bei Kantvon Benjamin Wihstutz | Seite 87 |
Einbildung als Bewegung bei Melchior Palágyivon Benjamin Wihstutz | Seite 95 |
IV. KAPITEL ÄSTHETISCHE ERFAHRUNG DES IMAGINATIVEN | |
Ästhetische Erfahrung des Imaginativenvon Benjamin Wihstutz | Seite 108 |
Grenzgang im Zwischen: »Ghost Machine«von Janet Cardiff und George Bures Millervon Benjamin Wihstutz | Seite 111 |
Heterotopie der Sinnevon Benjamin Wihstutz | Seite 123 |
Entrelacs! Die Dichte der Weltvon Benjamin Wihstutz | Seite 129 |
Anhang | |
Vita | Seite 136 |
Aufführungen; Literatur | Seite 137 |
Zum Autor
Benjamin Wihstutz
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Einbildung der Gefühle oder gefühlte Einbildung?
Einbildung als Bewegung bei Melchior Palágyi
Heterotopie der Sinne
Eigene Systeme schaffen
Günter Jeschonnek, Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste, über die Einflussmöglichkeiten der freien Szene im Gespräch mit Benjamin Wihstutz
Ein Bildbegriff für das Theater
Bibliographie
Beiträge von Benjamin Wihstutz finden Sie in folgenden Publikationen:
#CoronaTheater
Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie
Heft 09/2022
BRACK IMPERieT
„Hedda Gabler“ von Vegard Vinge und Ida Müller in Oslo
Recherchen 156
Ästhetiken der Intervention
Ein- und Übergriffe im Regime des Theaters
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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