Heft 04/2013
Nüchterner Rausch
Der Schauspieler Steven Scharf
Broschur mit 84 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
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Soll ein Editorial eine politische Resolution wie einen redaktionellen Beitrag behandeln? Wir meinen: Ja. Die Vorgänge in Ungarn sind derart alarmierend, dass wir uns neben dem Initiator Klaus Pierwoß, neben Unterzeichnern wie Elfriede Jelinek und Ulrich Khuon der Forderung nach einer europäischen Bewegung gegen den Abbau rechtsstaatlicher Instanzen anschließen.
Während die protofaschistische Polarisierung der ungarischen Gesellschaft eine antisemitische Gesinnung salonfähig macht und Roma als Sündenböcke für die immensen ökonomischen Probleme des Landes stigmatisiert, fragt der Theoriebeitrag von Bernd Stegemann, was der ökonomische Doppelsinn des Performativen über den Zusammenhang von theatralen Kunstformen und neoliberaler Ökonomie verrät. „Im englischen Verb ‚to perform‘ ist die Verbindung von Leistung und Darstellung in einer nicht übersetzbaren Doppeldeutigkeit gegeben. Eine Aktie oder der Angestellte müssen performen“ – um Mehrwertträume zu erfüllen. Der niederländische Theatermacher Jan Ritsema spricht in dieser Spur von der „Army of Artists“, deren nomadenhafter Umgang mit Zeit und Raum womöglich neoliberale Arbeitsmodelle der Zukunft darstellt. Allerdings bleibt Ritsema nicht bei einer analytischen Einschätzung, sondern gründete in einem ehemaligen Kloster in der Champagne das Performing Arts Forum, wo jeder Künstler gegen ein geringes Entgelt wohnen und an seinen Kunstprojekten arbeiten, sich aber zugleich über das neue Selbstverständnis des Künstlers austauschen kann. Denn im Gegensatz zum klassischen Avantgardebegriff ist die „Army of Artists“ längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und ihr integraler Bestandteil.
Im Gegensatz zu den Schlafwagensendungen des mit Zwangsabgaben subventionierten deutschen Fernsehens, wo ausgerechnet Katja Riemann mit ihren patzigen Antworten die auf Konsens konditionierte Fernsehgemeinde verstört – „Dear Katja, you are my hero“ (F. Raddatz) –, zeigen der Film- und Theaterregisseur Ulrich Seidl und Gunnar Decker, wie man den mentalen Ball tatsächlich hoch spielt: „Decker: Bei Ihren Arbeiten geht es mir meist so, dass ich mich hinterher auf anregende Weise unwohl fühle! Seidl: Das haben Sie sehr schön gesagt.“ Schon sind wir mitten im Themenkomplex Theater und Religion. Bereits im Insert performt der in Oberammergau geborene Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier visuell die Kunst seines Heimatdorfes. Während sich südlich der Alpen, in Neapel etwa, das Christentum als Orgie aus Blut und Schmerz feiert, zeigt Christoph Leibold, wie die bayrische Sensibilität selbst bei religiösen Themen noch die Rationalität fokussiert. Wenn Schauspieler Steven Scharf etwa Judas, den Meister des Verrats, spielt, will er „sich nicht ent-schuldigen, also ganz wortwörtlich seiner Schuld entledigen. Wohl aber will er sich erklären. Sich und seine Überzeugung.“ In einem weiteren Beitrag geht Sebastian Kirsch der Frage nach, wie das religiöse Ritual die politische Ästhetik Bertolt Brechts, Einar Schleefs und Christoph Schlingensiefs situiert.
Brecht liefert auch den Schlüssel für Sebastian Kirschs Einordnung des „neuen“ HAU unter Annemie Vanackere, denn die neue künstlerische Leiterin bezeichnet sich selbst als „Zuschauerin“ und benennt damit „tatsächlich eine ihrer wichtigsten Funktionen: ein Zuschauen zu praktizieren, das selbst eine Kunst ist, eine ‚Zuschaukunst‘, wie sie ähnlich bereits Brecht gefordert hat“.
In Havanna erlebte Dorte Lena Eilers derweil die kubanische Erstaufführung von Hans Werner Henzes „El Cimarrón“, eines nach wie vor brisant-politischen Werkes, das ebenso wie die bildende Kunst des Landes konstatiert: „Kubas Freiheit wohnt unter den Brüsten der Frauen.“ Das Libretto stammt von Hans Magnus Enzensberger und findet sich im Anschluss abgedruckt. Die Revolution von 1899, um die es im „Cimarrón“ unter anderem geht, „lasse natürlich auch Parallelen zur Revolution von 1959 zu – und damit zum Heute“, sagt der deutsche Regisseur Andreas Baesler über dieses von der deutschen Botschaft und dem Goethe-Institut veranstaltete Projekt. Anschließend erinnert sich der Schriftsteller Miguel Barnet, Autor des zugrundeliegenden Romans, wie Henze und Enzensberger ihn das erste Mal besuchten: „Hans, von dem ich noch eine Sammlung von Briefen auf Englisch habe, die ich einer künftigen Hans-Werner-Henze-Stiftung übergeben werde, hegte immer eine große Zuneigung zu Kuba und zu seinen Menschen, vor allem zu seinen Künstlern und Schriftstellern.“
Wer wissen möchte, wie Matthias Lilienthal in Beirut seine nächste Direktion des Festivals Theater der Welt in Mannheim 2014 vorbereitet, sei auf die letzte Seite verwiesen. Wer dagegen ein Freund von outer space ist und mehr über das Geheimnis des jüngsten Meteoritenbefalls erfahren will, lese Josef Bierbichlers Kolumne: „Mit Sternschnuppen hat das nichts zu tun.“ //
Die Redaktion
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Thema: Theater und Religion | |
KünstlerinsertLebende Bilder von Stefan Hageneier für die Passionsspiele Oberammergau 2010von Stefan Hageneier | Seite 4 |
Sakrale FiktionDer Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier über die Oberammergauer Passionsspiele – ein Megatheater, dem Hunderttausende zuschauen, im Gespräch mit Ute Müller-Tischlervon Ute Müller-Tischler und Stefan Hageneier | Seite 8 |
Nüchterner RauschWarum tiefstapeln? Dem Müchner Schauspieler Steven Scharf geht es um allesvon Christoph Leibold | Seite 12 |
Das entleerte HeiligeÜber die Nähe des Theaters zum religiösen Ritualvon Sebastian Kirsch | Seite 16 |
Keine ParadieseDer Regisseur Ulrich Seidl über die Besessenheit im christlichen Glauben im Gespräch mit Gunnar Deckervon Gunnar Decker und Ulrich Seidl | Seite 18 |
Protagonisten | |
The Army of ArtistsDer niederländische Theatermacher Jan Ritsema lebt und arbeitet in einem ehemaligen Kloster in der Nähe von Reims – einem Raum der Kunst. Eine Wiederentdeckung von Frank Raddatzvon Frank M. Raddatz und Jan Ritsema | Seite 21 |
Ein Mann Ein Bier Ein AnarchistWarum der Münchner Theatermacher Alexeij Sagerer den Irrsinn ernst nimmtvon Sabine Leucht | Seite 24 |
Kolumne | Seite 27 |
Steinschlagvon Josef Bierbichler | |
Protagonisten | Seite 28 |
Permanenter NeustartDas Berliner HAU verweigert sich unter der künstlerischen Leitung von Annemie Vanackere nach wie vor einer Programmatik – glücklicherweisevon Sebastian Kirsch | |
Schauspiel und Gesellschaft | Seite 32 |
Schauspielen. Schaufühlen. Schausein.Warum das mimetische Lügen dem Theater hilft, dem emotionalen Kapitalismus zu widerstehenvon Bernd Stegemann | |
Stiftet Aufruhr!Intellektuelle Europas vereinigt Euch gegen den Rechtsruck in Ungarnvon Klaus Pierwoß | |
Protagonisten | Seite 40 |
Die VordenkerDas Deutsche Staatstheater im rumänischen Temeswar bringt die Idee eines europäischen Theaters beispielhaft voranvon Mirka Döring | |
Look Out | |
Die Realität verkünstlichenDie Regisseurin Judith Wilske versteht Theater als Prozess der Selbstbelehrungvon Simone von Büren | Seite 42 |
Den Text geschehen lassenDas Kollektiv vorschlag:hammer generiert Sinnzusammenhänge erst im Moment der Aufführungvon Carolin Gerlach | Seite 43 |
Ausland | |
Das tägliche EtwasWie Hans Werner Henzes Sklavenbefreiungsstück „El Cimarrón“ auf Kuba heute die Freiheit des Einzelnen beschwörtvon Dorte Lena Eilers | Seite 47 |
Das Zischeln der KaribikHans Werner Henze in Havannavon Miguel Barnet | Seite 50 |
Libretto | Seite 53 |
El CimarrónRecital für vier Musiker. Text aus dem Buch von Miguel Barnet. Übersetzt und für Musik eingerichtet von Hans Magnus Enzensbergervon Hans Werner Henze, Hans Magnus Enzensberger und Miguel Barnet | |
Auftritt | |
Berlin: Ein Jahrhundert implodiertDeutsches Theater: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (UA) von Eugen Ruge. Regie Stephan Kimmig, Bühne Katja Haß, Kostüme Anja Rabesvon Gunnar Decker | Seite 59 |
Dessau: Romantiker im KapitalismusAnhaltisches Theater: „Der fliegende Mensch. Eine Junkers-Saga“ (UA) von Tine Rahel Völcker. Regie Andrea Moses, Ausstattung Karoly Riszvon Gunnar Decker | Seite 60 |
Karlsruhe: Einladung zum MüßiggangBadisches Staatstheater: „Müdigkeitsgesellschaft / Versuch über die Müdigkeit“ (UA) nach Byung-Chul Han und Peter Handke. Regie Stefan Otteni, Ausstattung Anne Neuservon Björn Hayer | Seite 61 |
Luzern: Archiv der SehnsüchteLuzerner Theater: „Briefe“ (UA) von Ivna Žic. Regie Ivna Žic, Ausstattung Doris Margarete Schmidtvon Dominique Spirgi | Seite 62 |
Zürich: Katze ausgestopftSchauspielhaus Zürich: „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ von Tennessee Williams. Regie Stefan Pucher, Bühne Barbara Ehnes, Kostüme Aino Laberenzvon Simone von Büren | Seite 63 |
Magazin | |
Der charmante GanoveJérôme Savary hat das Stadttheater ein Leben lang aufgemischt – jetzt ist er 70-jährig gestorbenvon Manfred Beilharz | Seite 65 |
Visionär in archetypischer LandschaftZum 70. Geburtstag von Dimiter Gotscheffvon Gunnar Decker | Seite 66 |
Aus der Sinnspur katapultiertFriedemann Kreuder (Hg.): Theater. Texte von und über Falk Richter 2000 – 2012. Tectum Verlag, Marburg 2012, 720 S., 24,90 EUR.von Patrick Wildermann | Seite 68 |
Um Antwort wird gebetenSamuel Beckett: Weitermachen ist mehr, als ich tun kann. Briefe 1929 – 1940. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 856 S., 39,95 EUR.von Holger Teschke | Seite 69 |
kirschs kontexteTeufel komm raus!von Sebastian Kirsch | Seite 69 |
Linzers Eck: Schreiben, reden oder besser gleich gehen?Beobachtungen zum Publikumsverhalten an Berliner Bühnenvon Martin Linzer | Seite 71 |
Meldungen | Seite 72 |
Aktuell: in nachbars garten | |
FilmNachschub für die Aschemühlevon Ralf Schenk | Seite 74 |
HörspielHaltlose Irrfahrtenvon Gerwig Epkes | Seite 74 |
KunstVom Ende der Zeitenvon Ute Müller-Tischler | Seite 75 |
MusikEntschleunigung im Untergrundvon Otto Paul Burkhardt | Seite 75 |
Aktuell | Seite 76 |
PremierenApril 2013 | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Matthias Lilienthal?von Matthias Lilienthal und Tom Mustroph |
Miguel Barnet
Manfred Beilharz
Josef Bierbichler
Otto Paul Burkhardt
Gunnar Decker
Mirka Döring
Dorte Lena Eilers
Hans Magnus Enzensberger
Gerwig Epkes
Carolin Gerlach
Stefan Hageneier
Björn Hayer
Hans Werner Henze
Sebastian Kirsch
Christoph Leibold
Sabine Leucht
Matthias Lilienthal
Martin Linzer
Ute Müller-Tischler
Tom Mustroph
Klaus Pierwoß
Frank M. Raddatz
Jan Ritsema
Ralf Schenk
Ulrich Seidl
Dominique Spirgi
Bernd Stegemann
Holger Teschke
Simone von Büren
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Überforderung(s)Kunst. Figurentheater zwischen Grenzerfahrung und Erschöpfung
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