Heft 10/2015
Der Auftrag
Lars-Ole Walburg und Sewan Latchinian
Broschur mit 80 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Menschen auf Bahnhöfen, Fähren, Schlauchbooten, vor Schlagbäumen, Hundertschaften und neu errichteten Zäunen. Die Bilder, die Europa in der gegenwärtigen Flüchtlingskatastrophe generiert, sind verstörend. Die Herausforderungen für Staat und Gesellschaft enorm. Während hierzulande Tausende von Ehrenamtlichen das leisten, wozu staatliche Institutionen allein kaum noch in der Lage sind, kursiert im Internet und auf der Straße der Hass.
Wie platziert sich in dieser Situation eine Inszenierung wie Rimini Protokolls „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“? Als riskante Aktualisierung einer Hetzschrift, die nach wie vor von rechten Gruppierungen verehrt wird? Wohl kaum. Oder besser gesagt: auch. Denn wie alle Rimini-Abende ist auch dieser aus vielen verschiedenen Perspektiven gebaut. Eine Entmythisierung, aber auch eine Vergegenwärtigung eines Buches, dessen Copyright zum Jahresende ausläuft. Thomas Irmer schreibt über diesen Abend beim Kunstfest Weimar, während der Berliner Philosoph Marcus Steinweg und der Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg in diesem Kontext über die gefährlichen Spielarten von Rassismus in der Gegenwart nachdenken.
„Durch die visuelle und emotionale Wucht von Ereignissen wie der gegenwärtigen Flüchtlingskatastrophe scheint die europäische Kunst (…) von der Realität direkt zum Handeln aufgefordert zu sein.“ Wie aber könnte dieses Handeln, nach dem Rolf Bossart den Schweizer Autor und Regisseur Milo Rau befragt, bestenfalls aussehen? Die Antworten in diesem Heft sind kontrovers. Während Rau in unserer Reihe zum Neuen Realismus als aktivistischer Künstler unmittelbar eingreifen will ins Getriebe der Welt – eben auch mit Stücken, die wie „Das Kongo Tribunal“ mitten hineingehen in aktuelle Konflikte –, plädieren die Intendanten Sewan Latchinian und Lars-Ole Walburg im Gespräch mit Dorte Lena Eilers und Gunnar Decker für ein Theater, das durchaus auch mit größerem räumlichen und zeitlichen Abstand auf das zu Verhandelnde blickt. Mit einem Abstand auch, der sich jeglicher politischer Vereinnahmung – „Was macht ihr denn dazu?“ – entzieht. „Wir machen seit Jahren ständig etwas mit Flüchtlingen und für Flüchtlinge“, so Walburg. „So zu tun, als müssten wir jetzt sofort Stücke, die es noch gar nicht gibt, zu diesem Thema auf die Bühne stellen, ist geradezu abstruser Aktionismus.“
Johan Simons hat es dennoch getan: ein Stück über die Neuankömmlinge in Deutschland inszeniert. Zumindest sieht er in dem Subproletariat, das Pier Paolo Pasolini in seinem Film „Accattone“ 1961 porträtierte, eine Parallele zu den Arbeitssuchenden aus Afrika und vom Balkan. Wie konträr eine solche Deutung zur unmittelbaren Realität des Aufführungsortes sein kann – Simons ließ in einer stillgelegten Kohlenmischanlage in Dinslaken spielen –, zeigt die Reaktion des Dinslakener Vizebürgermeisters Eyüp Yildiz. Dieser warf Simons vor, die Stadt und ihre prekären Verhältnisse bloß als Kulisse für ein Kunstspektakel zu benutzen, um dann schnell weiterzuziehen. Martin Krumbholz hat mit dem Intendanten der Ruhrtriennale über seine Arbeit am „Accattone“-Stoff gesprochen. Fotos seiner aufwühlenden Inszenierung, die auch die beeindruckenden Dimensionen der Industriekathedrale zeigen, sind in unserem Kunstinsert zu sehen.
„The Power“. Ein schlichter Titel zu einem komplexen Stoff. Und, wenn man so will, die Ursache und damit Kehrseite der gegenwärtigen Situation. Für die National Theater Company of Korea hat Nis-Momme Stockmann ein Stück geschrieben, eine Art Universalabrechnung mit einem System, das in seinem Kreislauf von Konsum und Konsum und noch mal Konsum die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Kerstin Car war bei dieser Götzendämmerung in Seoul dabei, die in der Regie von Alexis Bug zeigt, wie schwierig der Ausstieg aus dem System ist. „Austritt aus der Unmündigkeit? Nö.“ Oder doch? Unbedingt. //
Die Redaktion
Artikel | Seite |
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Artikel | Seite |
Künstlerinsert | |
„Accattone“ in der Regie von Johan Simons bei der Ruhrtriennale 2015von Johan Simons | Seite 6 |
Wüste mit DachIn einer stillgelegten Kohlenmischanlage in Dinslaken inszeniert Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons mit Pasolinis „Accattone“ ein vielschichtiges Requiem über das Dasein jenseits der Mittevon Martin Krumbholz | Seite 10 |
Zehn Minuten Ewigkeitvon Martin Krumbholz | Seite 14 |
Thema: „Mein Kampf “ in Weimar | |
Das unheimliche BuchWie Rimini Protokoll mit „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“ beim Kunstfest Weimar die Hetzschrift entmystifizierenvon Thomas Irmer | Seite 17 |
Notiz zum Rassismusvon Marcus Steinweg | Seite 18 |
Der Hitler in unsHans-Jürgen Syberberg will die „verwüsteten Seelenlandschaften“ der deutschen Geschichte kultivierenvon Gunnar Decker | Seite 19 |
Protagonisten | Seite 22 |
Der AuftragGrenzen auf, Grenzen zu – die Intendanten Sewan Latchinian (Rostock) und Lars-Ole Walburg (Hannover) über Pegida, brennende Häuser und die neuen Herausforderungen für das Theater im Gespräch mit Dortevon Gunnar Decker, Dorte Lena Eilers, Sewan Latchinian und Lars-Ole Walburg | |
Neuer Realismus | Seite 26 |
Buchenwald, Bukavu, BochumWas ist globaler Realismus? Milo Rau im Gespräch mit Rolf Bossartvon Milo Rau und Rolf Bossart | |
Festivals | |
Am ReckDas Internationale Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg bewegt sich virtuos und ohne Sicherheitsnetz zwischen gewagter Neuproduktion und etabliertem Programmvon Natalie Fingerhut | Seite 32 |
Das Loch im SystemWährend des Internationalen Theaterfestivals Varnaer Sommer befragt das junge, freie bulgarische Theater sich und sein Landvon Mirka Döring | Seite 35 |
Kolumne | Seite 37 |
Sehr geehrter Herr B.,von Josef Bierbichler | |
Protagonisten | Seite 38 |
Das gestische PrinzipFokus Brecht: Ein „verspäteter“ west-östlicher Gedankenaustausch zwischen Hans Martin Ritter und Thomas Wieckvon Thomas Wieck und Hans Martin Ritter | |
Look Out | |
Die Julian-Rauter-ZaubershowWie der bildende Künstler auf der Schwelle zwischen Skulptur und Theater die Geschichte der Hybris erzähltvon Christian Horn | Seite 42 |
Jodeln, jauchzen und juchatzenDer Performer und Choreograf Simon Mayer vermisst Brauchtümer von Oberösterreich bis nach Chinavon Theresa Luise Gindlstrasser | Seite 43 |
Ausland | Seite 44 |
GötzendämmerungNis-Momme Stockmanns universale Gesellschaftskritik „The Power“ feierte im südkoreanischen Seoul ihre Uraufführungvon Kerstin Car | |
Auftritt | |
Hannover / Recklinghausen: Hölle des RevolutionstheatersSchauspiel Hannover / Ruhrfestspiele Recklinghausen: „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution“ von Heiner Müller. Regie Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, Bühne Jo Schramm, Kostüme Ulrike Gutbrodvon Martin Krumbholz | Seite 47 |
Hiddensee: Halb Wurzel, halb WahrsagerinSeebühne Hiddensee: „Störtebeker – Der Anfang“ Regie Tatjana Bartel Bühne und Figuren Christian Werdin Kostüm Katharina Schimmelvon Ralf Stabel | Seite 48 |
Moers: Ich bin gut – bis es knalltSchlosstheater Moers: „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch. Regie Ulrich Greb, Bühne Birgit Angele, Kostüme Elisabeth Straußvon Friederike Felbeck | Seite 49 |
Münster: Beteiligte und BetroffeneTheater Münster: „Die Ereignisse“ (DEA) von David Greig Regie Frederik Tidén Ausstattung Claudia Irrovon Friederike Felbeck | Seite 50 |
Osnabrück: Unruhe im UntergrundTheater Osnabrück: Spieltriebe 6 – Festival für zeitgenössisches Theatervon Ralf Döring | Seite 51 |
Zürich: Das ArschlochergebnisSchauspielhaus Zürich: „Ein Volksfeind“ von Henrik Ibsen in einer Bearbeitung von Dietmar Dath. Regie Stefan Pucher, Bühne Barbara Ehnes, Kostüme Annabelle Wittvon Andreas Tobler | Seite 52 |
Magazin | Seite 54 |
Von der Wunde lebenDer Autor Mehdi Moradpour über sein Stück „Türme des Schweigens“ im Gespräch mit Miriam Dengervon Mehdi Moradpour und Miriam Denger | |
Stück | Seite 56 |
türme des schweigensvon Mehdi Moradpour | |
Magazin | |
Auf der Probebühne politischen Handelns30 Jahre Tanzcompagnie Rubatovon Johannes Odenthal | Seite 65 |
Chronist des amerikanischen AlbtraumsZum 100. Geburtstag von Arthur Millervon Holger Teschke | Seite 66 |
kirschs kontexte: Anmerkungen zum antiken Asyl Aischylos’„Die Hiketiden“ als Stück der Stundevon Sebastian Kirsch | Seite 67 |
Die TheaterikoneZum Tod der israelischen Schauspielerin Orna Poratvon Wolfgang Schneider | Seite 68 |
Nicht nur ErbinZum Tod von Barbara Brecht-Schallvon Stephan Suschke | Seite 69 |
SingulärZum Tod des Schauspielers Peter Kernvon Hans Jürgen Syberberg | Seite 70 |
Knecht mit königlicher WürdeZum Tod des Schauspielers Horst Mendrochvon Martin Krumbholz | Seite 71 |
Absteiger der GeschichteEugen Ruge: Theaterstücke 1986 – 2008. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2015, 621 S., 29,95 EUR.von Gunnar Decker | Seite 72 |
Dem Denken zusehenMilo Rau: Althussers Hände. Essays und Kommentare. Verbrecher Verlag, Berlin 2015, 272 S., 19 EUR.von Sebastian Kirsch | Seite 73 |
Aktuell | |
Meldungen | Seite 74 |
PremierenOktober 2015 | Seite 76 |
TdZ on Tour | Seite 78 |
TdZ on Tour | |
Impressum/Vorschau | Seite 79 |
Impressum/Vorschau | |
Gespräch | Seite 80 |
Was macht das Theater, Wolfram Lotz?von Thomas Irmer und Wolfram Lotz |
Josef Bierbichler
Rolf Bossart
Kerstin Car
Gunnar Decker
Miriam Denger
Mirka Döring
Ralf Döring
Dorte Lena Eilers
Friederike Felbeck
Natalie Fingerhut
Theresa Luise Gindlstrasser
Christian Horn
Thomas Irmer
Sebastian Kirsch
Martin Krumbholz
Sewan Latchinian
Wolfram Lotz
Mehdi Moradpour
Johannes Odenthal
Milo Rau
Hans Martin Ritter
Wolfgang Schneider
Johan Simons
Ralf Stabel
Marcus Steinweg
Stephan Suschke
Hans Jürgen Syberberg
Holger Teschke
Andreas Tobler
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