Recherchen 7
"Ich war immer ein Opportunist..."
12 Gespräche über Theater und das Leben in der DDR, über geliebte und ungeliebte Zeitgenossen
von Martin Linzer
Paperback mit 308 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-07-5
Zuerst war da nur der Name. Gerüchte wussten von einer ungewöhnlichen journalistischen Geradheit im Staat der gekrümmten Rücken. Martin Linzer habe Heiner Müller die Stange gehalten in schwerer Zeit, als erster, zeitweilig gar als einziger in der DDR über Frank Castorf geschrieben, als der noch tief in seinen Anklamer Anfängen steckte.
1993 tauchte der Mann selbst in unserem Blickfeld auf. Mit Ledermütze, verschlissenem Leder-Parka und dem unvermeidlichen Glas Rotwein in der Hand. Christoph Schroth hatte zur 1. Zonenrand-Ermutigung nach Cottbus gerufen und alle, alle waren gekommen. Von da an sahen wir den Mann mit Mütze, Jacke und Rotwein häufig bei Berliner Premieren. In den Redaktionsstuben von Theater der Zeit flüsterte es damals, dieser da, der Herausgeber, sei ein Urgestein, schon immer bei »der Zeitschrift«, recht eigentlich die Verkörperung ihrer Geschichte. Dieser da müsse etwas zu erzählen haben, aber, leider, er wolle es nicht aufschreiben. Wieso eigentlich nicht? »Zu faul dazu«, sagte Martin Linzer.
Der 1931 in Berlin geborene Theaterkritiker Martin Linzer gehört einer Generation ehemaliger DDR-Bürger an, die bis heute kritische Distanz halten zu dem mixtum compositum aus zwei verschiedenen deutschen Gesellschaften. Dass die politische und gesellschaftliche Übermacht im Westen »den Osten« zum Schweigen bringt, ist die durch einschlägige Erfahrungen gestützte Überzeugung der im Westen bis heute nicht angekommenen Generation. Doch ist das nur ein Teil der Wahrheit. Im gleichen Maße wie »der Westen« Vergangenheit und Gegenwart des vereinten deutschen Staates dominiert, erfreut sich zwischen Mecklenburg und Sachsen der Rückzug in eine splendide Selbstbezogenheit zunehmender Beliebtheit. Es ist dies eine Haltung zwischen Furcht und Hoffnung, der heitere Skeptizismus derjenigen, die schon einmal die Arroganz der Mächtigen in einem Staatszusammenbruch enden sahen.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten unserer Gegenwart, dass zwar die Erinnerung an die DDR Konjunktur hat, an ihre blasse Konsumwelt, an Unterdrückung und die einfältige Propaganda, an Filme und bildende Kunst, die durchschnittlichen Erfahrungen der Bürger des sozialistischen Staates jedoch je länger je mehr an Wert verlieren. Die ungeteilte Präsenz der geteilten Vergangenheit gehört aber zum Kernbestand eines Gemeinwesens, zu seinem kulturellen Kapital.
Theater, so es überhaupt eine Bedeutung für sich beanspruchen kann, ist ein Seismograf der umgebenden Gesellschaft in und aus der es lebt. Eine Plattitüde. Nimmt man jedoch diese Grundbestimmung ernst, gerät, durch die Brille von Theateraufführungen gesehen, die Entwicklung der Gesellschaft selbst in den Blick. In der Summe seiner Hervorbringungen leistet so auch das Schauspiel des ostdeutschen Staates, als ein Mosaikstein unter vielen anderen, seinen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der DDR. Dies war das Interesse, das den Aufschreiber dazu verleitete, Martin Linzer den Vorschlag zu machen, Gespräche über seine Erfahrungen und Erlebnisse im vergangenen ostdeutschen Theater zu führen.
Geduldig hat sich der Theaterkritiker Martin Linzer, aber auch der überzeugte Da-Bleiber in dem gewesenen Arbeiter- und Bauernstaat, den manchmal naiven, manchmal von Vorurteilen belasteten, den kritischen und verständnislosen Fragen ausgesetzt. Nicht jedes Wieso und Weshalb konnte und wollte er beantworten. Der Aufschreiber hat nachgebohrt, so gut er es verstand.
»Ich bin ein Mann des Schreibens, nicht des gesprochenen Wortes«, warnte Martin Linzer in der ersten von insgesamt hundert über zwei Jahre verteilten Stunden, in denen er seinem wissbegierigen Gesprächspartner Rede und Antwort stand. Am Ende entschieden wir uns, auch in der schriftlichen Fassung den Gesprächston beizubehalten. Um Missverständnissen vorzubeugen. Denn nicht um eine repräsentative Chronik des DDR-Theaters sollte es sich bei unserem Vorhaben handeln, als vielmehr um eine »Plauderei« (Linzer) »mit Untiefen« (Merck). Naturgemäß ist in dem vorliegenden Buch dennoch vor allem vom Theater die Rede. Wie anders bei einem Erzähler, der Tausende von Abenden in den Parkettsitzen zwischen Anklam und Zittau zugebracht und seine Eindrücke hinterher schriftlich verarbeitet hat. In Umrissen ist eine etwas andere Geschichte des Schauspieltheaters im deutschen Sozialismus entstanden, mit den Koordinaten Senftenberg, Dresden, Berlin und Halle, Magdeburg, Schwerin, Anklam und Cottbus.
Unvermeidlich, dass die Berichte stets auch von der Zeitschrift Theater der Zeit handeln, deren Redaktion Martin Linzer seit 1954 angehört hat. Die Rettung der Zeitschrift aus den Trümmern der alten in die neue Gesellschaft hinein, ist, und er hat sich danach nicht gedrängelt, zu seinem Lebensprojekt geworden. Der Mann, der von sich selber sagt, er sei immer Opportunist gewesen, erwies sich dabei weniger als Flachschwimmer, denn als Rettungsschwimmer für Theater der Zeit.
Da indes die Erinnerung und Erfahrung eines einzelnen Weggefährten des Theaters aufgerufen waren, zeigen die 12 Gespräche und 12 Dokumente auch einen Menschen, der Hoffnungen setzte in den Staat DDR und sein Versprechen, Demokratie und Sozialismus auf deutschem Boden zu verwirklichen. Und der, trotz der Enttäuschung dieser Hoffnung, zuletzt zu der bei einem Zeitgenossen von Krieg, Stalinismus und Staatsagonie doch einigermaßen überraschenden Aussage kommt, er habe ein gutes Leben gehabt.
Ein gutes Leben in der DDR? Dieser autoritären Staatsgewordenheit altdeutscher Hausmeistermentalität? Es mag, wenigstens für unbefangene Leser, nachvollziehbar sein, dass der Aufschreiber aus dem Westen ob dieses Resümees seine Zweifel nicht verhehlen kann. Doch nicht die Binsenweisheiten eines in Frieden und Wohlstand Aufgewachsenen waren bei den Gesprächen von Interesse, auch wenn sie den Horizont der Fragen naturgemäß begrenzten, als vielmehr die Innensicht, die Frage, wie sich das Leben im versunkenen deutschen Staate eigentlich angefühlt hat.
Nikolaus Merck, Berlin Juni 2001
Ich danke Ute Frings-Merck, Ursula Merck und Barbara Engelhardt für ihre Ermutigung und Unterstützung. N.M.
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Erstes GesprächElternhaus und Kindheit, Krieg. Werner Sellnow. Wir gehen ins Theater. Das Nachkriegs-Theater tut (fast) so, als sei gar nichts geschehen. Brecht. MINNA VON BARNHELM 1960.von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 11 |
Zweites GesprächVorstellung bei Theater der Zeit. Die Alten und die Jungen bilden eine Familie. Erpenbeck und Brecht. Anne-Lise Harich. Der Kritiker geht in die Theaterpraxis. Selbstverständnisvon Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 31 |
Drittes GesprächTheater in den fünfziger Jahren: Senftenberg, Berlin und Dresden. Die Protagonisten: Horst Schönemann, Helene Weigel, Wolfgang Langhoff. Außerdem: der Dresdner Liebling Horst Schulzevon Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 53 |
Viertes GesprächTheater als Staatsaffäre: Heiner Müllers und B.K.Tragelehns UMSIEDLERIN 1961. Der personifizierte Opportunismus: Hans-Rainer John. Tschechische Depressionen auf Hiddensee...von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 71 |
Fünftes GesprächTheaterlust im Weltformat: das Deutsche Theater in den sechziger Jahren. Wolfgang Heinz, Benno Besson, Horst Sagert und Adolf Dresen. Privates Leben.von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 89 |
Sechstes Gespräch»Jazz in der Kammer«. Post von fünf Kontinenten. Wie ein Nicht- Musiker im Free Jazz seine Nische findet. Theaterreisen ins sozialistische Wirtschaftsgebiet.von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 113 |
Siebtes GesprächRückkehr zu Theater der Zeit. Wie wir damals arbeiteten und schrieben. 1968 und die Volksbühne unter Benno Besson. Bekanntschaft mit einem Star-Autor.von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 135 |
Achtes GesprächDie 40-Jährigen treten an. In Magdeburg löckt ein IM wider den Stachel. Ein Freund: der Dramaturg Heiner Maaß. Sicher ist man nie: der Erzähler läßt es an Wachsamkeit fehlen...von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 161 |
Neuntes GesprächEine Männerfreundschaft in den achtziger Jahren: Martin Linzer und Alexander Lang. Warum so viele in der DDR erfolgreiche und wichtige Regisseure nach 1990 nicht mehr reüssiertenvon Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 177 |
Zehntes GesprächSchwerin. Martin Linzer fühlt sich in der Kantine zu Hause. Ein Kalenderblatt für Siggi Höchst. Vier Fäuste für den Nationalpreis. Die DDR trudelt auf ihr Ende zu...von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 191 |
Elftes GesprächÜber die Anfänge des Außenseiters Frank Castorf im Nirgendwo Nordost. Herr Gysi und Herr Linzer werden nach Berlin chauffiert. Ein Kalenderblatt für Gerhard Meyer...von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 215 |
Zwölftes GesprächMauerfall, Vereinigung und die Folgen für eine Theaterzeitschrift und das Bewusstsein eines Intellektuellen. Georg Seidel, der letzte Dramatiker der DDR...von Martin Linzer und Nikolaus Merck | Seite 229 |
Anhang12 Texte von Martin Linzer von 1956 bis 1998von Martin Linzer | Seite 257 |
Register | Seite 302 |
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Zum Autor
Martin Linzer
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Der Autor Christian Martin im Gespräch mit Martin Linzer
Edel sei der Mensch, horror und gut
Die 5. Zonenrand-Ermutigung in Cottbus
»Aus Inszenierungskonzeptionen unserer Theater/Teil 2«. »Material zum Theater« Nr.135
Hrsg. Verband der Theaterschaffenden der DDR/Verlag Volk und Wissen Berlin 1980, 85 S.
Bibliographie
Beiträge von Martin Linzer finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 11/2014
System startet neu
Über den Einbruch der Performance in die Oper
Heft 10/2014
Blackfacing
Heft 09/2014
This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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