Recherchen 52
Angst vor der Zerstörung
Der Meister Künste zwischen Archiv und Erneuerung
Herausgegeben von Stephan Jöris, Stephan Reus, Clemens Risi und Robert Sollich
Paperback mit 296 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-940737-09-0
"Ein Interview mit Katharina Wagner über Aspekte ihrer Inszenierung rundet den Band ab" Opernwelt
Die Angst vor der Zerstörung ist in der Oper so weit verbreitet wie in kaum einem anderen Bereich der zeitgenössischen Künste. Spätestens seit dem Aufkommen des so genannten Regietheaters in den 1970er Jahren tobt hier ein Dauerkonflikt zwischen Bewahrern und Erneuerern, in dessen Rahmen um den angemessenen Umgang mit der Oper gerungen wird. Wo die einen die Inszenierung tradierter Bühnenwerke als kreativen Akt der Neuinterpretation verstehen, beharren die anderen auf so genannter „Werktreue" und wollen die alten Meister vor dem vermeintlich zerstörerischen Zugriff einer modernen Anverwandlung schützen.
Der vorliegende Band, der aus einem Symposion aus Anlass der Neuinszenierung der „Meistersinger von Nürnberg" bei den Bayreuther Festspielen hervorgegangen ist, untersucht, warum bis heute gerade immer wieder Interpretationen der Opern Richard Wagners für diesen Konflikt symptomatisch gewesen sind, befragt das Spannungsfeld von ästhetischer Konvention und Innovation und stellt damit auch die Frage nach dem Umgang mit dem Überlieferten zwischen Archiv und Erneuerung.
Einleitung
Die Angst vor der Zerstörung ist in der Oper so weit verbreitet wie in kaum einem anderen Bereich der zeitgenössischen Künste. Spätestens seit dem Aufkommen des so genannten Regietheaters in den 1970er Jahren tobt hier ein Dauerkonflikt zwischen Bewahrern und Erneuerern, in dessen Rahmen um den angemessenen Umgang mit der Oper gerungen wird. Wo die einen Interpretation als kreativen Akt verstehen und sich für die Wiederholung um der Differenz willen interessieren, beharren die anderen auf so genannter »Werktreue« und wollen die alten Meister vor dem vermeintlich zerstörerischen Zugriff einer modernen Anverwandlung schützen.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass im Zentrum der Auseinandersetzung immer wieder Neuinterpretationen der Opern Richard Wagners stehen. Werden derlei Dispute doch nicht nur um Wagner, sondern bemerkenswerterweise auch schon bei ihm geführt, gleichermaßen in seinen theoretischen Schriften wie in seinen Bühnenwerken. Namentlich seine beiden großen Künstlerdramen Tannhäuser und Die Meistersinger von Nürnberg thematisieren die Angst vor der Zerstörung lieb gewonnener ästhetischer Ordnungen und Praktiken und warten mit einer uns ziemlich vertrauten Frontstellung auf: Hier die Wartburgwelt, die ihre Konventionen als ewig gültige moralische und ästhetische Werte hochhält, dort Tannhäuser, der deren Überschreitung proklamiert. Hier die Meister, deren Kunstauffassung ganz auf Bewahrung des Überlieferten zielt, dort Walther von Stolzing, der demgegenüber gerade die Veränderung, die Innovation, den Aufbruch aus ästhetischen Traditionen zelebriert. Gemäß der einen Seite ist das Erfüllen der Regeln Voraussetzung für Kunst, gemäß der anderen müssen die einmal aufgestellten Regeln erst gebrochen und zerstört werden, um Kunst zu ermöglichen.
Eine Tradition der Bayreuther Festspiele wieder aufgreifend, wurde die Neuinszenierung der Meistersinger 2007 zum Anlass für ein wissenschaftliches Symposion genommen, das in Kooperation mit der Freien Universität Berlin am 17. und 18. August 2007 in Bayreuth stattfand und dessen Ziel es war, den Streit der Kunstbegriffe und -konzepte, wie er natürlich nicht erst und nicht nur bei Wagner geführt wird, neu zu beleuchten, zu historisieren und kunst-komparatistisch die Präsenz und Bedeutung dieser Konflikte zu diskutieren. Die Veranstaltung
war dabei weniger von einer zentralen Ausgangshypothese als von den folgenden synchronen und diachronen Fragestellungen geleitet: Inwieweit ist die in den Meistersingern aufgemachte Dichotomie von Bewahren und Erneuern als spezifisches Kennzeichen des späten, post-klassizistischen, vor-avantgardistischen 19. Jahrhunderts anzusehen oder aber in eine wesentlich längere Geschichte wiederkehrender querelles des anciens et des modernes (mindestens) von der frühen Neuzeit bis zur Postmoderne einzuordnen? Ist der Gestus der Erneuerung dabei immer derselbe, notwendig zerstörerische, oder unterscheidet er sich in den verschiedenen Künsten und Zeiten? Stellt die Zerstörungsangst eine Konstante des Widerstandes gegen ästhetische Umwälzungen dar oder ist sie vielleicht dort besonders ausgeprägt, wo Innovation
und Tradition so eng aufeinander bezogen sind wie im Theater, speziell
im Musiktheater mit seinem stetigen Rückbezug auf ein klassisches Repertoire? Welchen Einfluss haben die verschiedenen Medien-Innovationen - etwa die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern und die entsprechende Informationsbeschleunigung durch neue Medien gegenüber den Traditionen der Oralität - auf die Frage nach Verstetigung und Verflüssigung der hergebrachten Konventionen; interessanterweise vertritt der innovative Stolzing gerade die ältere Mündlichkeit gegen den Schrift- und Regelkult der konservativen Meister.
Die Ergebnisse dieses Symposions sind im vorliegenden Band dokumentiert. Dabei schlagen die Beiträge der Autorinnen und Autoren einen Bogen von der historischen Handlungszeit der Meistersinger von Nürnberg über das kulturhistorische und ästhetische Umfeld ihrer Entstehungszeit bis zu zeitgenössischen Debatten unserer Tage. Von der Opernaufführungspraxis lenken sie den Blick auch auf andere Künste und reflektieren, inwiefern das einschlägige Verhältnis einer vorgängigen Ordnung (z. B. eines Textes) zu ihrer eigenen Überschreitung und Störung zugunsten der Hervorbringung einer neuen Ordnung (z. B. einer Aufführung) für den generellen Umgang einer Kultur mit ihren auf sie gekommenen, im Archiv sich versammelnden Regeln, Codes, Normen und eben Texten Geltung beanspruchen kann.
Als Auftakt zu diesem Band nimmt Ernst Osterkamp den Begriff der kreativen Zerstörung aus einer umfassenden, historisch-theoretischen Perspektive in den Blick und hinterfragt damit gleich zu Beginn die programmatische Hypothese einer Dichotomie von Archiv und Erneuerung respektive sogar Zerstörung selbst. Ein Text von Aleida Assmann schließt an diese Dynamisierung des Begriffspaares an und diskutiert den Zusammenhang von Archivierung und Erneuerung in Bezug auf Wagners Meistersinger von Nürnberg. Auch Dieter Borchmeyer differenziert diese Leitbegriffe, indem er ihnen in der Variation einer Dialektik von Nomos und Chaos in den Meistersingern nachspürt. Der Frage, inwieweit Wagners Oper bei ihrer Feier des progressiven Künstlertums sich selbst nicht doch kompositorisch wieder an konservativen Mustern orientiert und damit speziell in der Figur Stolzings hinter den eigenen ästhetischen Programmen zurückbleibt, geht Anno Mungen nach. Unter Berücksichtigung ihrer Inszenierungsgeschichte widmet sich Robert Sollich dem ästhetischen Selbstverständnis der Meistersinger und ihrer spezifischen Selbstreflexivität als Künstlerdrama. Werner Röcke wiederum wendet sich mit der Untersuchung zweier Fallbeispiele des Fastnachtspiels dessen strukturellen Ausdifferenzierungen zu und liefert damit einen Beitrag zur historischen Wirklichkeit der Meistersinger. Mit Friedemann Kreuders Ausführungen zu den politischen Implikationen und Hoffnungen, die sich für Wagner mit seiner Oper verbanden, endet ein erster Teil dieses Buches, der sich vorrangig Fragestellungen rund um die Meistersinger von Nürnberg widmet.
Die hieran anschließenden Beiträge, die sich mit dem Thema unter weiter gefassten ästhetischen Gesichtspunkten befassen, werden von Dieter Thomä eröffnet, der im Vergleich von Wagner und Sergej Eisenstein nicht nur den Begriff des Gesamtkunstwerks diskutiert, sondern auch dessen je unterschiedliche mediale Realisierung. Gundula Kreuzer widmet sich in ihrer Dokumentation des reisenden Wagner-Theaters nicht nur der Darstellung eines frühen Beispiels des Versuchs der Archivierung eines Theaterereignisses, sondern liefert auch Einblicke in die Theaterwirklichkeit zu Zeiten Wagners und reflektiert über den Zusammenhang von Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit von Theater. Um Inszenierungsgeschichte und deren politisch-soziale Konnotationen geht es im Beitrag Udo Bermbachs, der seine Thesen am Beispiel des Ring des Nibelungen in Bayreuth exemplifziert. Auch Michael P. Steinberg widmet sich zunächst dem Ring, indem er dessen wegweisende Inszenierung durch Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth zum Impuls nimmt, auf die Resonanz zeithistorischer Ereignisse im deutschen Regietheater zu reflektieren. Sebastian Reus nimmt die Theaterarbeiten zum Parzival/ Parsifal-Stoff von Tankred Dorst und Christoph Schlingensief zum Anlass, um über ein Drama nach den großen Erzählungen nachzudenken. Eine Auseinandersetzung mit dem so genannten Regietheater aus rezeptionsästhetischer Perspektive entwickelt der Beitrag von Stephan Mösch, der die zeitgenössischen Kontroversen um die Inszenierung von Oper als Konflikt zwischen verschiedenen hermeneutischen sowie dekonstruktivistischen Positionen reformuliert. Um eine Theoretisierung und Historisierung eben dieser Kontroversen geht es schließlich auch Wolfgang Ullrich, der vor dem Hintergrund der Ästhetiken von Hegel, Adorno und Heidegger kunsttheologischen Residuen in der Auseinandersetzung um das Musiktheater nachspürt.
Abschließend widmen sich verschiedene Beiträge einer konkreteren Auseinandersetzung mit der Bayreuther Meistersinger-Inszenierung von 2007. Den Auftakt macht Lydia Goehr, indem sie den zahlreichen Verwerfungen nachgeht, mit denen Katharina Wagners Regiearbeit nicht nur das Stück und seine spezifische Tradition bei den Bayreuther Festspielen konfrontiert, sondern unsere Wahrnehmung von Musiktheater überhaupt. David J. Levin nimmt eine Debatte in der amerikanischen Musikwissenschaft um die Begriffe ›drastisch‹ und ›gnostisch‹ zum Anlass, um die gegenseitige Durchdringung hermeneutischer und präsenzästhetischer Phänomene anhand der Bayreuther Inszenierung zu veranschaulichen. Einen Bogen zurück zum Topos der Zerstörung schlägt der Artikel von Clemens Risi, der diskutiert, was in der (musik-)theatralen Auseinandersetzung mit Texten eigentlich zerstört wird und wie dies die aktuelle Bayreuther Meistersinger-Inszenierung ihrerseits reflektiert. Den Abschluss bildet ein Interview mit Katharina Wagner, in dem die Regisseurin Stellung nimmt zu einigen im Band versammelten Perspektiven auf ihre Inszenierung.
Unser erster Dank geht an die HypoVereinsbank, deren großzügige Unterstützung das Symposion erst möglich gemacht hat. Danken möchten wir dem Regierungspräsidenten von Oberfranken, Herrn Wilhelm Wenning, für die Bereitstellung des Landrätesaals, der der Veranstaltung einen außergewöhnlichen Rahmen gab. Unser Dank gilt schließlich Julia Knetzger, Janina Reuter und Stefanie Sudik für die Unterstützung bei der Durchführung des Symposions sowie Elisabeth Hofmann, Cornelia Schmitz und Anna Toewe für die redaktionelle Mitarbeit bei der Herausgabe dieses Bandes.
Robert Sollich, Clemens Risi, Sebastian Reus, Stephan Jöris
Bayreuth und Berlin, April 2008
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Einleitungvon Stephan Jöris, Sebastian Reus, Clemens Risi und Robert Sollich | Seite 7 |
Kreative Zerstörung als ästhetisches Verfahren in Richard Wagners »Meistersingern«von Ernst Osterkamp | Seite 11 |
Zwischen Kälte- und Hitzetod»Die Meistersinger von Nürnberg« als Meta-Opervon Aleida Assmann | Seite 29 |
»Die Meistersinger von Nürnberg« oder Die Geburt der Kunst aus dem Geiste des Chaosvon Dieter Borchmeyer | Seite 46 |
Nähe und Distanz»Die Meistersinger von Nürnberg« als Werk der ästhetischen Verführung?von Anno Mungen | Seite 61 |
Hier gilt’s der Kunst – Aber welcher?»Die Meistersinger von Nürnberg« als Katalysator künstlerischer Selbstreflexion im Wandel ihrer Geschichtevon Robert Sollich | Seite 75 |
Entgrenzung des KarnevaleskenDie Dialogisierung von Fastnachtspiel und antiker Komödie bei Hans Sachs und Jakob Ayrervon Werner Röcke | Seite 97 |
Deutsche Kunst und deutsche PolitikRichard Wagners »Die Meistersinger von Nürnberg« (1867) in der Zeit einer riskanten Modernevon Friedemann Kreuder | Seite 112 |
»… will ohne Meister selig sein!«Die inneren Spannungen des Gesamtkunstwerks bei Richard Wagner und Sergej Eisensteinvon Dieter Thomä | Seite 125 |
Authentizität, Visualisierung, BewahrungDas reisende »Wagner-Theater« und die Konservierbarkeit von Inszenierungenvon Gundula Kreuzer | Seite 139 |
Zeitströmungen und ästhetische ProduktionBemerkungen zum Zusammenhang von Politik, Gesellschaft und Inszenierungskonzeptenvon Udo Bermbach | Seite 161 |
Die Unfähigkeit zu träumenvon Michael P. Steinberg | Seite 174 |
»Die Meistersinger von Nürnberg« – FotografienKatharina Wagners Inszenierung in Bayreuth 2007von Michael P. Steinberg | Seite 185 |
Risse in der bröckelnden MauerTankred Dorsts »Parzival« und Christoph Schlingensiefs Bayreuther »Parsifal«-Inszenierung als Krise der ästhetischen Erfahrungvon Sebastian Reus | Seite 201 |
Störung, Verstörung, ZerstörungRegietheater als Rezeptionsproblemvon Stephan Mösch | Seite 216 |
»Die Kunst ist Ausdruck ihrer Zeit«Genese und Problematik eines Topos der Kunsttheorievon Wolfgang Ullrich | Seite 233 |
Heil wem? Katharina: Wasted Art or the Art of Wastevon Lydia Goehr | Seite 247 |
»Die Meistersinger von Nürnberg«:drastisch oder gnostisch?von David J. Levin | Seite 260 |
Die neuen »Meistersinger« und die Angst vor der Zerstörungvon Clemens Risi | Seite 272 |
Die »Meistersinger« von Bayreuth - Überlegungen zur InszenierungKatharina Wagner im Gespräch mit Clemens Risivon Clemens Risi und Katharina Wagner | Seite 280 |
Autorinnen und Autoren | Seite 287 |
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