Heft 06/2021
Das große Kegeln
Zur Machtdebatte am Theater
Broschur mit 72 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISSN 0040-5418
Wohin rollt die Kugel? Wie viele Figuren werden vom Platz gekegelt? Wer kippt – und wer wackelt nur bedenklich, kann sich nach einer Zitterpartie am Ende aber halten?
Nein, neu ist sie nicht, die Intendant:innendämmerung, die sich am Bühnenhimmel von Karlsruhe über Düsseldorf bis nach Berlin ausgebreitet hat: Einmal mehr erschüttern Machtmissbrauchs-, Sexismus-, Rassismusvorwürfe die Branche. Hier einer, der zurücktritt, da einer, der aus seinem Vertrag entlassen wird, dort eine, die sich massiver Kritik durch ihre Belegschaft ausgesetzt sieht. Darüber, wie unkünstlerisch-giftig es im House of Arts hinter den Kulissen häufig zugeht, berichteten wir bereits vergangenen Herbst, in einem unserer ersten Hefte der Theatersaison. Wie viel lieber es uns gewesen wäre, die Spielzeit jetzt nicht mit dem gleichen Problem wieder beschließen zu müssen, steht außer Frage.
Leben wir in einem Zeitalter gesteigerter Empfindlichkeit – oder hat der geballte Unmut über die Abhängigkeitsverhältnisse, den Druck und die Übergriffigkeiten, der jetzt so kegelkugelgleich durch die Theater rollt, tatsächlich eine neue Qualität? Darüber sprechen wir in unserem Schwerpunkt „Intendant:innendämmerung“ mit dem Schauspieler Michael Klammer, der eine Frontenverhärtung am Theater beobachtet und erzählt, warum er das Recht auf Fehler für eine wichtige Kulturtechnik hält, sowie mit der Kritikerin und ehemaligen Festivalleiterin Renate Klett, die auf der Folie des ersten, 1980 von ihr initiierten Frauentheaterfestivals in Köln darüber nachdenkt, ob, wo und wie sich der Betrieb in der Zwischenzeit verändert hat. Außerdem haben Martin Müller und Paula Perschke ein Gerichtsverfahren gegen das Maxim Gorki Theater Berlin besucht und verfolgt, wie es nach dem buchstäblich kurzen Prozess in der Causa weiterging.
Einen Gerichtstermin – als Zuschauer – hatte im April auch unser Kolumnist Ralph Hammerthaler. Und was unerfreuliche Zirkelschlüsse betrifft, geht es ihm leider wie uns: Hatte er zu Beginn der Saison vom Kampf des be- und geliebten Kreuzberger Kiezbuchladens Kisch & Co. gegen die Mietvertragskündigung durch einen gesichtslosen Immobilienfonds geschrieben, muss er jetzt von dessen trauriger Niederlage berichten. Sollte es ernsthaft jemanden verwundern, dass auch Michael Bartschs Kommentar zu einem Spargutachten im Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien den Titel „Alle Jahre wieder“ trägt?
Bloß gut, dass wenigstens der Autor und Theatermacher Boris Nikitin Kapital aus dem Phänomen der Wiederholung schlagen kann – in Form origineller kulturtheoretischer Gedanken, die in seinem hier abgedruckten Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ ebenso stecken wie in seinem Gespräch mit Sabine Leucht. Und, apropos Negatives produktiv machen: Auch die dramatischen Entwicklungen auf dem Immobilien- und Mietwohnungsmarkt – siehe Kisch & Co. – wären garantiert noch deprimierender, wenn Gruppen wie die Berliner Guerilla Architects, die wir im Künstlerinsert vorstellen, sie nicht ästhetisch-aktivistisch aufarbeiten würden mit ihren innovativen Interventionen ins Stadtbild.
Ein tröstliches Beispiel, dass der Ausbruch aus dem Immergleichen tatsächlich auch gelingen kann, hat immerhin Tom Mustroph zu vermelden: Ausgerechnet Corona hat zu neuartigen Residenzprogrammen für die freien darstellenden Künste geführt, die – wie er an der Basis der Szene herausgefunden hat – wirklich jede Menge frischer Impulse liefern.
Gänzlich unvergleichlich indes ist, worüber Künstlerinnen und Künstler derzeit in Israel nachdenken (müssen). „Unser Traum ist es“, sagt Avraham Oz, Hausregisseur am „ethnisch blinden“ Alfa Theater in Tel Aviv, im Gespräch mit Herwig Lewy über die explosive Lage in Nahost, „dass Fragen der ethnischen Herkunft oder der nationalen Zugehörigkeit aus unserem Leben verschwinden.“ Derzeit ist allerdings das Gegenteil der Fall: Die Eskalation zwischen der radikalislamischen Hamas und dem israelischen Militär erreichten Mitte Mai eine neue Runde. Das Alfa Theater mit seinem jüdisch-arabischen Ensemble erscheint da wie ein lang ersehnter Ort friedlicher Koexistenz.
Verabschieden müssen wir uns in diesem Heft von dem großen Tänzer und Choreografen Ismael Ivo, der im April an Covid-19 verstarb. Für zahllose Kolleginnen und Kollegen, schreibt Johannes Odenthal in seinem Nachruf, habe Ivo eine künstlerische Perspektive geschaffen, „die seine Utopie einer Befreiung durch den Körper auch nach seinem Tod fortschreiben werden“. //
Die Redaktion
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Künstlerinsert | |
Urbane Interventionenvon Guerilla Architects | Seite 6 |
Lebst du noch, aber wohnst nicht mehr?Immobilienblase? Mietendeckel? Hausbesetzung? Die Guerilla Architects aus Berlin intervenieren am Puls der Zeit ins Stadtbildvon Patrick Wildermann | Seite 10 |
thema: intendant:innendämmerung | |
Lappen hoch, Klima – Vorhang auf, DiversitätDer Schauspieler Michael Klammer über Rassismus, eine neue Frontenbildung am Theater, Angst vor Fehlern und das Recht auf Fauxpasvon Christine Wahl und Michael Klammer | Seite 13 |
Im Namen der Kunst verführbarDas Maxim Gorki Theater Berlin vor Gericht – Ein Überblick über die Ereignissevon Paula Perschke und Martin Müller | Seite 16 |
Theater ist kein FinanzamtDie Kritikerin und ehemalige Festivalleiterin Renate Klett über den schmalen Grat zwischen Ausnahmezustand und Veränderungsdruck am Beispiel der Frauenbewegung im Theatervon Dorte Lena Eilers und Renate Klett | Seite 20 |
Ausland | Seite 25 |
Unser TraumAvraham Oz, Hausregisseur am „ethnisch blinden“ Alfa Theater in Tel Aviv, über die explosive Lage in Nahost im Gespräch mit Herwig Lewyvon Herwig Lewy und Avraham Ozzum Online-Extra: Unser Traum/Our Dream | |
Abschied | Seite 26 |
Der utopische KörperEin Nachruf auf den Tänzer und Choreografen Ismael Ivo, der im April 2021 an Covid-19 verstarbvon Johannes Odenthal | |
Kolumne | Seite 29 |
Proust!Hochsicherheitsdrama um den Kreuzberger Buchladen Kisch & Co.von Ralph Hammerthaler | |
Protagonisten | Seite 30 |
Forschen statt SpielenDie während der Corona-Krise entwickelten Stipendienprogramme für die freien darstellenden Künste wären auch postpandemisch ein Gewinnvon Tom Mustroph | |
Look Out | |
It’s the Produktionsform, stupid!Das Wiener Theaterkollektiv makemake produktionen durchbricht das Kategoriendenkenvon Margarete Affenzeller | Seite 32 |
Facebook oder Insta?Die Regisseurin Cosmea Spelleken macht Netztheater zu einer intimen Erfahrungvon Sabine Leucht | Seite 33 |
Kommentar | Seite 34 |
Alle Jahre wiederEin weiteres Spargutachten versetzt den Kulturraum Oberlausitz-Niederschlesien in Aufruhrvon Michael Bartsch | |
Exklusiver Vorabdruck | Seite 36 |
Das Spiel der rechten und der linken HandVon ästhetischer Arbeit bei Georg Lukács | |
Auftritt | |
Berlin: Schlangenbrut im HöllenpfuhlSophiensaele: „Die Sumpfgeborene“ von matthaei & konsorten. Regie Jörg Lukas Matthaei, Ausstattung Michael Gaessnervon Martin Krumbholz | Seite 41 |
Baden/St. Gallen/Zürich/Aarau: Im Kriegsgebiet der PsycheTheater Marie/Theater St. Gallen/Theater Winkelwiese/Bühnen Aarau: „Schleifpunkt“ von Maria Ursprung. Regie Olivier Keller, Ausstattung Beate Fassnacht, Video Kevin Grabervon Brigitte Schmid-Gugler | Seite 41 |
Basel: In der Agglomerations-HölleTheater Basel: „Onkel Wanja“ von Anton Tschechow in einer Schweizerdeutsch-Fassung von Lucien Haug. Regie Antú Romero Nunes, Bühne Matthias Koch, Kostüme Lena Schön und Helen Steinvon Dominique Spirgi | Seite 42 |
Hannover: Im flirrenden Hamsterrad des SpektakelsSchauspiel Hannover: „Woyzeck“ von Georg Büchner. Regie Lilja Rupprecht, Bühne Anne Ehrlich, Kostüme Geraldine Arnold, Video Moritz Grewenigvon Jens Fischer | Seite 44 |
Saarbrücken: Panorama der EinsamkeitSaarländisches Staatstheater: „Eine kurze Chronik des künftigen Chinas“ (DSE) von Pat To Yan. Regie Moritz Schönecker, Bühne Benjamin Schönecker, Kostüme Veronika Bleffertvon Björn Hayer | Seite 45 |
Stuttgart: Königreich im freien FallTheater Rampe: „Princess Hamlet“ von E. L. Karhu in einer Fassung des Theaters Rampe. Regie Marie Bues und Niko Eleftheriadis, Ausstattung Indra Nauckvon Elisabeth Maier | Seite 46 |
Zürich: Die Stunde, in der wir nichts mehr voneinander wusstenSchauspiel Zürich: „Afterhour“ von Alexander Giesche. Regie Alexander Giesche, Bühne Nadia Fistarol, Kostüme Felix Siwińskivon Daniele Muscionico | Seite 46 |
Stück | |
Wenn der Moment der Verletzlichkeit zur Ware wirdDer Autor und Regisseur Boris Nikitin über sein für die Mülheimer Theatertage nominiertes Stück „Erste Staffel. 20 Jahre Großer Bruder“ im Gespräch mit Sabine Leuchtvon Sabine Leucht und Boris Nikitin | Seite 48 |
Erste Staffel. 20 Jahre Großer Brudervon Boris Nikitin | Seite 50 |
Magazin | |
Was tun?Zum fünfzigsten Todestag des Philosophen Georg Lukácsvon Erik Zielke | Seite 65 |
Radikal feministisch und mit schwarzem HumorWährend die deutschsprachige und litauische Dramatik den Zerfall unserer Gesellschaften sezieren, löst der Heidelberger Stückemarkt das Distanzproblem mit einer Digitalversionvon Elisabeth Maier | Seite 66 |
Identitätspolitik als Verschleierungstaktik?Wolfgang Engler: Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 208 S. Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 304 S.von Martin Krumbholz | Seite 67 |
Aktuell | Seite 69 |
Meldungen | |
Abschied | Seite 70 |
Baroness des Kinder- und JugendtheatersEin Nachruf auf Eva Balvon Wolfgang Schneider | |
Impressum/Vorschau | Seite 71 |
Autorinnen und Autoren Juni 2021 / Vorschau | |
Gespräch | Seite 72 |
Was macht das Theater, Mable Preach?von Natalie Fingerhut und Mable Preach |
Margarete Affenzeller
Michael Bartsch
Dorte Lena Eilers
Natalie Fingerhut
Jens Fischer
Guerilla Architects
Ralph Hammerthaler
Björn Hayer
Michael Klammer
Renate Klett
Martin Krumbholz
Sabine Leucht
Herwig Lewy
Elisabeth Maier
Martin Müller
Daniele Muscionico
Tom Mustroph
Boris Nikitin
Johannes Odenthal
Avraham Oz
Paula Perschke
Mable Preach
Brigitte Schmid-Gugler
Wolfgang Schneider
Dominique Spirgi
Christine Wahl
Patrick Wildermann
Erik Zielke
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Ausland | Seite 25 |
Unser TraumAvraham Oz, Hausregisseur am „ethnisch blinden“ Alfa Theater in Tel Aviv, über die explosive Lage in Nahost im Gespräch mit Herwig Lewyvon Herwig Lewy und Avraham Ozzum Online-Extra: Unser Traum/Our Dream |
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