Der Populismus gewinnt Mehrheiten, da das Projekt des Liberalismus in einer tiefen Krise steckt. Brexit, AfD, Marine Le Pen, Beppe Grillo, Viktor Orbán und als irrer Höhepunkt des Jahres 2016 der Wahlsieg von Donald Trump haben das doppelte Problem des Liberalismus brutal aufgedeckt: Er ist zum einen in einer Kollaboration mit dem Neoliberalismus gefangen und er ist zum anderen in sich selbst gefangen.
Das Gespenst des Populismus geht um. An populären Erklärungen für den Populismus mangelt es nicht und es scheint, als wären sie extra für die Jahre nach 2015 geschrieben worden: Es braucht eine Finanzkrise, eine Flüchtlingswelle, ein Misstrauen in die Eliten, eine wachsende Ungleichheit und schließlich Parteien und Politiker, die daraus eine Bewegung formen. Die Regierungen sehen sich in der Zwickmühle, ihren Einwohnern die globale Revolution aller Lebensbedingungen zuzumuten und zugleich den Protest gegen die Entfremdung abzuwehren. Kritik an der wachsenden Ungleichheit ist für sie eine populistische Gefahr.
Bernd Stegemann analysiert die Dramaturgie des politischen Sprechens und geht der Frage nach, ob der Populismus allein als Gefahr für die Demokratie anzusehen ist oder ob er nicht vielmehr ein Symptom dafür ist, was in ihr falsch läuft. Die eingespielten Regeln des politischen Sprechens über Alternativlosigkeiten haben eine große Abwehr provoziert. Könnte die populistische Rede nicht ein Versuch der Mitsprache derjenigen sein, die sonst über keine Stimme verfügen? Die zentrale Frage der Demokratie lautet immer noch: Dürfen die Ausgeschlossenen sprechen?
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Die Wohlstandsgesellschaften sind offenkundig tief gespalten. Während die eine Hälfte ihre Umgangsformen verfeinert und den Alltag liberalisiert, ist die andere Hälfte wütend darüber, wie stark ihr Leben durch die Zwänge von Arbeit und Armut eingeschränkt ist. Die einen sind am 9. November 2016 vom Wahlergebnis in den USA schockiert, während die anderen feiern, weil sie ihrer Wut eine Stimme geben konnten. Die Medien haben über Monate den Sieg der liberalen Kandidatin beschworen und sind mit einem neuen Präsidenten Donald Trump aufgewacht. Die Vernünftigen in aller Welt können noch immer nicht begreifen, was der „bemitleidenswerte Abschaum“, wie Hillary Clinton die Trump-Wähler nannte, getan hat.
Die Situation erinnert an die Fassungslosigkeit toleranter Eltern, die hilflos dabei zusehen müssen, wie ihre Sprösslinge sich immer weiter radikalisieren. Und während der Abgrund zwischen den Vernünftigen und den Revoltierenden wächst, liefern die zahlreichen Talkrunden und Zeitungsartikel in einer Wiederholungsschlaufe die immer gleichen Erklärungen: Populisten geben einfache Antworten auf komplexe Probleme, sie spalten die Gesellschaft in Eliten und Volk und sie wollen Grenzen errichten, wo bisher Freiheit war.
Die These dieses Essays ist, dass der Populismus gewinnt, weil das Projekt des Liberalismus in einer tiefen Krise steckt. Brexit, AfD, Marine Le Pen, Viktor Orbán, Beppe Grillo und als irrer Höhepunkt des Jahres 2016 der Wahlsieg von Donald Trump haben das doppelte Problem des Liberalismus brutal aufgedeckt: Er ist zum einen in einer Kollaboration mit dem Neoliberalismus gefangen und er ist zum anderen in sich selbst gefangen.
Das liberale Projekt war seit der französischen Revolution eine einzigartige Erfolgsgeschichte, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht hat. Alle Welt wollte so leben wie die Menschen im freien Westen. Ihre Mode und ihre Musik waren cooler, ihre Konsumgüter besser und ihr alltägliches Leben viel aufregender als das in den geschlossenen Gesellschaften. Freie Menschen konnten offensichtlich bessere Dinge erfinden und auch im Umgang miteinander sorgsamer und liebevoller sein.
Doch irgendetwas scheint bei dem globalen Siegeszug des Liberalismus schiefgelaufen zu sein, denn es lässt sich nicht länger übersehen, wie gerade in den liberalsten Gesellschaften die größten Krisensymptome entstehen. Die Freiheit des Individuums scheint immer weniger als Errungenschaft empfunden zu werden, sondern vielmehr als Last. Die Offenheit der Gesellschaft wird immer weniger als Möglichkeit zur Selbstentfaltung empfunden, sondern vielmehr als Gefahr. Und die Gleichberechtigung aller Menschen ist kein wahr gewordener Menschheitstraum, sondern Stress für den Einzelnen, der sich einer globalen Konkurrenzsituation ausgesetzt sieht. Das allgemeine Lebensgefühl ist das der Überforderung in einer grenzenlosen Welt.
Das Zeitalter des Populismus ist spätestens mit dem Jahr 2016 angebrochen. Sein Kennzeichen ist der tragische Konflikt zwischen den Verteidigern der offenen Gesellschaft und ihren Angreifern. Der Konflikt unterscheidet sich von den bisherigen Kämpfen zwischen liberalen und totalitären Ideologien dadurch, dass die Widersprüche in der Postmoderne andere sind als zuvor. Der Liberalismus hat es geschafft, konkrete Widersprüche in komplexe Paradoxien zu verwandeln, und konnte sich mit diesem Trick für viele Jahre der Kritik entziehen. Jetzt, wo die Widersprüche wieder konkret und die Gegensätze schroffer werden, treten die realen Interessen hinter der glitzernden Fassade seiner paradoxen Kommunikation hervor.
Die offene Gesellschaft hat sich selbst in die Schusslinie gebracht, weil sie allzu lange ihre Kollaboration mit dem Kapital ignoriert hat. Heute, wo die Globalisierung die Unterstützung durch die fortschrittlichen Kräfte immer weniger benötigt, da die Grenzen für das Kapital längst abgeschafft sind, erscheint der Liberalismus plötzlich wie der dumme Gehilfe, der seine Schuldigkeit getan hat und nun abtreten kann. So zeichnet sich der tatsächliche Frontverlauf langsam ab. Er liegt nicht mehr zwischen der offenen Gesellschaft und ihren Feinden, sondern er verläuft zwischen der globalen Macht des Kapitals und den Menschen.
Die bittere Einsicht für alle ist: Der Kapitalismus braucht keine Demokratie und die Globalisierung braucht die offene Gesellschaft nur als Türöffner, um die sozialen Errungenschaften des Wohlfahrtsstaates zerstören zu können. Die Eliten, die aktiv von dieser Lage profitieren und sie durch ihren liberalen Populismus befördert haben, geraten von zwei Seiten unter Druck: Die Menschen wollen, dass Freiheit nicht im Widerspruch zu ihrem Leben steht, und das Kapital will schutzlose Arbeiter, deregulierte Märkte und willige Konsumenten, die sich der Dynamik der Ausbeutung unterwerfen.
Will man die falschen Antworten des Rechtspopulismus auf die richtige Frage nach den Fehlern der Globalisierung parieren, so muss die offene Gesellschaft damit anfangen, ihr Verhältnis zum Neoliberalismus zu verändern. Denn solange die liberalen Kräfte mit dem Kapital kollaborieren, so lange führen die Angriffe des Rechtspopulismus zu der tragischen Situation unserer Zeit. Die Macht des rechten Populismus besteht in der richtigen Behauptung, dass liberale Werte und soziale Ungleichheit zwei Seiten derselben Medaille sind, und zugleich liegt er mit seinen Lösungen absolut falsch. So kann sich die Tragödie immer weiter zuspitzen und die rettende dritte Kraft lässt auf sich warten. Denn das linke Denken, das in den Widersprüchen des Kapitalismus die Chance zur Veränderung erkennen könnte, hat in der Postmoderne seine entscheidende Kraft verloren: die Dialektik. Die undialektischen Linken unserer Zeit können weder die Angriffe des Rechtspopulismus parieren noch können sie zu einer eigenen Strategie kommen, um die Paradoxien des Liberalismus offenzulegen.
Insofern machen sich die Verteidiger der offenen Gesellschaft noch immer falsche Hoffnungen, wenn sie nach Patentrezepten gegen den Rechtspopulismus suchen. Ausgrenzen oder umarmen, integrieren oder diffamieren, alle Methoden verfehlen das Problem, und es hilft auch nichts, den Menschen die Politik besser erklären zu wollen oder sie weiterhin moralisch einzuschüchtern. Die einzige Lösung liegt in der Selbstkritik des Liberalismus. Dass der Rechtspopulismus den Druck erhöht und die Linken ausfallen, macht die Situation nicht einfacher.
Dieser Essay versucht, die Tragödie des Populismus als dialektische Bewegung zweier Welten zu begreifen. Die humane Haltung zu einer Tragödie kann niemals darin bestehen, sich auf eine der beiden Seiten zu stellen. Der antike Demos hatte erkannt, dass der Ausweg allein darin besteht, von beiden Seiten zu lernen, ohne ihnen auf den Leim zu gehen. Wir alle sind gerade Zeugen, wie die offene Gesellschaft sich mit ihren paradoxen Sprachspielen, hyperkritischen Diskursen und gut verschleierten Privilegien selbst zerstört und wie die Rechtspopulisten hierbei gewaltig mithelfen.
Die Tragödie ist eine Botin der Katastrophe. Sie anzuschauen, kann dem Publikum Angst machen und ihm zugleich die Kraft verleihen, um für das Menschliche und gegen die Gewalt zu kämpfen. Wir alle sind Zuschauer der Tragödie des Populismus. Die Wahl liegt bei uns, ob wir die Augen verschließen und uns auf eine der beiden Seiten schlagen oder ob wir wie die antiken Erfinder der Demokratie aufstehen und die Sache selber in die Hand nehmen. Denn eines ist in der Tragödie absolut sicher: Beide Seiten haben gleichermaßen Recht und darum müssen beide Seiten untergehen. Rettung liegt allein bei denjenigen, die das erkennen.