Recherchen 29
Heiner Müller Bildbeschreibung
Ende der Vorstellung
Herausgegeben von Ulrike Haß
Paperback mit 220 Seiten, Format: 140 x 240 mm
ISBN 978-3-934344-60-0
Dieses Buch ist leider vergriffen
Was kann Theater jenseits seiner Bildlichkeit, was kann Sehen jenseits eingespielter Sichtbarkeiten sein? Ausgangspunkt solcher Überlegungen, von Theatertheoretikern und Theaterpraktikern auf einem dreitägigen Symposium im Schauspielhaus Bochum 2001 angestellt, war der Text „Bildbeschreibung", den Heiner Müller 1985 für den steirischen herbst schrieb.
In ihrer Summe vermitteln die Beiträge von Jean Jourdheuil, Hans-Thies Lehmann, Martin Zenck, Armen Godel u. a. einen Eindruck von der unendlichen Lektürebewegung, zu der Müllers Texte auffordern: ohne Gattung, Handlung, Rollen, Spieler, Sprecher, eine Zumutung und eine Herausforderung. „Bildbeschreibung" wirkt wie eine letzte Zusammenfassung von anderen Texten und Kunstformen, eine Art Endstation, Kritik und Selbstkritik des Theaters in einem.
Ausgehend von der Frage, was ein Theater jenseits seiner Bildlichkeit sein könnte und was ein Sehen jenseits eingespielter Sichtbarkeiten sein könnte, entstand der Wunsch, dieser Frage und den mit ihr aufgegebenen Paradoxien exemplarisch nachzugehen. Die Problematik, die das Theater aus der Epoche seiner optisch erschlossenen Bühnen als Erbe mit sich führt und nicht dadurch los wird, dass es sie voluntaristisch oder akzidentiell anders meint handhaben zu können, ist gleich ursprünglich mit der Herausbildung des neuzeitlichen Subjekts, mit seiner Sichtbarkeit, seiner Zeit, seiner exponierten Verlassenheit und seiner Antwortlosigkeit. Gingen die neuzeitlichen und modernen Konstrukteure der Sichtbarkeit anfänglich noch davon aus, die Welt für die menschliche Wahrnehmung zu erschließen und auf diese Weise vielleicht bewohnbar machen zu können, liegt das Augenmerk inzwischen längst auf ihren Kritikern, die in den Abbildungen der Welt nicht ihre Rettung, sondern ihre Auslöschung wahrnahmen. Diese Wahrnehmung indessen verlangt nach einer Überschreitung des anthropozentrischen Geschichtsmodells und nach einer Überschreitung historistischer Erklärungsmodi insgesamt. Es sind also in gewisser Hinsicht alle Fragen, die mit der Frage nach dem Bild, der Bildsamkeit des Subjekts und seiner Möglichkeit der Wahrnehmung und Darstellung aufgerufen sind. Der Horizont dieser Fragen verbietet einen direkten oder umstandslosen Zugang. Er verbietet eine Sprache der stringenten Logik ebenso wie eine der selbstsicheren Wahrnehmung. Er verlangt vielmehr nach einem Schauplatz der beständigen Infragestellung und nach einer Wiederholung, die das Ende verweigert. Kaum ein Text erscheint geeigneter, sich diesem Horizont aufgegebener und gleichwohl entziehender Fragen zu widmen als BILDBESCHREIBUNG von Heiner Müller.
Die hier versammelten Texte gehen auf ein Symposium zurück, das im Jahr 2001 am Schauspielhaus Bochum stattgefunden hat. Der Ausgangsgedanke bestand darin, dass alle eingeladenen Theaterschaffenden und Wissenschaftler sich zu dem Text Bildbeschreibung verhalten sollten. Insbesondere wollte sich diese Tagung den in der Fußnote zu Bildbeschreibung genannten Bezügen und dem Verfahren der »Übermalung« widmen. Zu diesem Zweck wurden einzelne Aspekte und Schwerpunkte den Vortragenden gleichsam in Auftrag gegeben. Diese Voraussetzung bedeutete für die Mehrheit der Eingeladenen, sich zu diesem Anlass mit der Konkretion eines eigenen Textes auf BILDBESCHREIBUNG einzulassen oder ihre szenischen Erkundungen von BlLDBESCHREIBUNG erstmals in Form eines eigenen Textes mitzuteilen. Die vorgetragenen, hier versammelten Texte geben in ihrer Summe einen Eindruck jener unendlichen Lektüre, zu der Müllers Texte auffordern, die sie aber auch erlauben. In den verschiedenen, komplexen Lektüren spiegelt sich darüber hinaus etwas wider, das Müllers Schreiben selbst hervorbrachte und motivierte, eine Bewegung in der Art einer unendlichen Zusammensetzung, einer Kompilation schärfster Antagonismen.
Was für die Texte Heiner Müllers insgesamt gilt, findet sich in zugespitzter Form in dem autodramatischen Text BILDBESCHREIBUNG niedergelegt, ein Text ohne Gattung, Handlung, Rollen, Spieler, Sprecher, eine Zumutung, eine Herausforderung (Nikolaus Müller-Schöll). BILDBESCHREIBUNG versammelt Bilder unterschiedlicher Zeitalter, wirkt »wie eine letzte Zusammenfassung von anderen Kunstwerken und Kunstformen«, als eine Art »Endstation«, Kritik und Selbstkritik des Theaters zugleich (Irène Bonnaud). Er ist vom grundlegenden »Zweifel am Bild, am Sehen, am Betrachter« getragen (Julia Bernhard). »Zwischen Bildverbot und Auslöschung der Welt durch die Abbildung der Welt« handelt er mit »Gesten ohne Bezugssystem« von etwas, das in Frage steht (Jean Jourdheuil). Die eigentümliche Ortlosigkeit der Stimme eines Betrachters, die diesen Text hervorruft, wird mit den Merkmalen der Schrift analogisiert (Hans-Thies Lehmann). BILDBESCHREIBUNG wird als ein Text aufgewiesen, »der geschrieben ist wie ein Traum« in der »Zeit einer Evolution ohne Zeugen« (Barbara Hahn). Er wird als poetischer Artefakt gekennzeichnet, der die »Unverfügbarkeit von Sprache« bezeugt (Theresia Birkenhauer), als ein Text, der am »Grund des Sprechens« die Wörter als »Gespenster eines vormaligen Gesprochenseins« ausmacht (Manfred Schneider). Am Saum der Sprache ist der Moment auf Messers Schneide ein Bild. BILDBESCHREIBUNG dehnt diesen Moment, ermöglicht die Verlagerung des Fokus auf den Abstand zwischen dem Auge und dem Körper des Betrachters. Der Zwischenraum ermöglicht die »Klangschrift als Körperschrift« (Martin Zenck mit Bezug auf Gluck, Wilson und Rihm).
Die möglichen Bezugnahmen sind fast so vielfältig wie die jeweilig eingenommenen Sichtweisen und dennoch nicht beliebig. Lessings Bildbeschreibung Laokoon spielt eine Rolle (Theresia Birkenhauser), Lessings Definition der Theaterszene als Bild, die sich gegen die Schockerfahrung mangelnder Transzendenz abschließt (Günther Heeg) und schließlich die Durchstreichung der Bildschrift des Kinos im Gefieder der VÖGEL (Joseph Vogl). Einzelne Bilder von Goya, Tintoretto und de Chirico sind heranzuziehen (Alexander Weigel). Vielfältig sind die Bezüge zu Foucaults Überwachen und Strafen. Ebenso zur Figur der Alkestis, die nicht nur das stumme Ereignis des Blicks, sondern auch die Figur ist, die am Bett in ihrem Ehegemach »ihr Gesicht über den Rand der Szene des Nô-Theaters beugt« (Armen Godel).
Die Lektüren folgen den Übermalungen, in denen sich Bilder über Bilder legen, so dass es nie zu einem wirklichen Bild kommt. »Der Text bereitet als Ganzes den Moment seiner Auflösung vor, die Eröffnung hin auf ein Ereignis, das in ihm gleichwohl nicht manifest werden kann«, schreibt Nikolaus Müller-Schöll, der in seinem Beitrag auf die Antwortlosigkeit »nach Auschwitz und Hiroshima« hinweist. Der hier erstmals veröffentlichte Brief von Heiner Müller an Ginka Tscholakowa, die 1985 die Uraufführung von BILDBESCHREIBUNG für den Steirischen Herbst in Graz vorbereitete, spricht in diesem Zusammenhang vom »Theater Auschwitz«. Als »Metapher der Aufführung« schlägt Heiner Müller jenen Halbsatz vor, den Ginka Tscholakowa als Titel ihres Berichts zur Uraufführung zitiert: »Ein Schlüssel, der mit den Flügeln schlägt«.
Die in diesem Band versammelten Beiträge lesend erhält diese Metapher einen eigentümlich genauen Sinn. Weit davon entfernt, den Text Bildbeschreibung ausschöpfen zu können oder zu wollen, machen die hier exponierten Lektüren den Eindruck, auf den eigentlichen Beginn ihrer Ausführungen zu warten. Sie sind ein Anfang.
Am Zustandekommen dieses Bandes hatten verschiedene Institutionen und Personen großen Anteil, denen an dieser Stelle zu danken ist: Der Fritz Thyssen Stiftung ist für ihre großzügige finanzielle Unterstützung zu danken, durch die das gleichlautende Symposium, das diesem Band zu Grunde liegt, ermöglicht wurde. Dem Schauspielhaus Bochum ist für die freundliche Aufnahme dieser Tagung in seinem Haus zu danken, hier vor allem namentlich und stellvertretend Thomas Oberender. Allen Autorinnen und Autoren ist für die Überarbeitung und Neufassung ihrer Vorträge herzlich zu danken, Hans-Thies Lehmann für die Genehmigung des Abdrucks seines früher verfassten Textes »Theater der Blicke«, Armen Godel für die Überlassung seines Beitrags »Kumasakas Schatten. Brief an Jean Jourdheuil«, den wir für diesen Band ins Deutsche übertragen durften, sowie für seinen eigens für diesen Band neu verfassten Text »Kumasakas Schatten II«. Für ihre Übersetzungen aus dem Französischen seien Judith Kaspar und Verena Cornely-Harboe gedankt.
Für ihre freundschaftliche Mitarbeit bei der Planung, Organisation und Durchführung der Tagung danke ich Margrit Proske. Für ihre engagierte Unterstützung der Tagung danke ich Studierenden und Lehrenden des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, namentlich Guido Hiß und Mechthild Heede. Für ihre umsichtige und gewissenhafte Betreuung des Lektorats danke ich Bianca Henne. Mechthild Heede, Meike Hinnenberg und Verena Müller danke ich für ihre Arbeit bei der Textkorrektur.
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Vorbemerkung | Seite 6 |
Heiner Müller: Bildbeschreibung, Faksimilie | Seite 10 |
I SCHRIFT | |
»So wurde allmählich dieses Bild >mit Schrift bedeckt< ...«Das Konvolut Bildbeschreibung im Nachlass Heiner Müllersvon Julia Bernhard | Seite 19 |
Brief an Ginka Tscholakowa im Zusammenhang mit der Uraufführung von Bildbeschreibung beim steirischen herbst 1985 in Grazvon Heiner Müller | Seite 31 |
»Ein Schlüssel, der mit den Flügeln schlägt« Bericht zur Uraufführung von Bildbeschreibung beim steirischen herbst 1985 in Grazvon Ginka Tscholakowa | Seite 33 |
Surveillance - Beschreibung - VersuchsanordnungZur Inszenierung der Bildbeschreibung von Jean Jourdheuil und Mark Lammert in Stuttgartvon Jean Jourdheuil | Seite 37 |
Keine Bebilderung, keine Vertonungvon Peter Kammerer | Seite 50 |
Ist das ein Stück. Eine kleine Geschichte zu Heiner Müllers Bildbeschreibungvon Thomas Reichert | Seite 55 |
II BILD | |
Theater der BlickeZu Heiner Müllers Bildbeschreibungvon Hans-Thies Lehmann | Seite 63 |
Alkestis' WiederkehrVom Schreiben in einer »Traumphase«von Barbara Hahn | Seite 79 |
Bild - Beschreibung. Das Auge der Sprachevon Theresia Birkenhauer | Seite 93 |
Im Namen des Bildes. Über den Grund des Sprechensvon Manfred Schneider | Seite 112 |
Die doppelte Übermalung der Alkestis von Euripides und Gluck in der Inszenierung von Robert Wilson und in der Klangbeschreibung I-III von Wolfgang Rihmvon Martin Zenck | Seite 121 |
III POLITIK | |
The Invasion of the Body Snatchersvon Irène Bonnaud | Seite 135 |
Gestensammlung und PanoptikumZur Messianizität in Heiner Müllers Bildbeschreibungvon Nikolaus Müller-Schöll | Seite 144 |
Geschlechtermaskerade Fin de partie Mit-Teilungvon Günther Heeg | Seite 158 |
Anfang der VorstellungHeiner Müllers Bildschreibung in seinen Inszenierungen Der Lohndrücker und Hamlet/Maschine am Deutschen Theater Berlinvon Alexander Weigel | Seite 170 |
IV ENDEN | |
Kumasakas Schatten. Brief an Jean Jourdheuilvon Armen Godel | Seite 179 |
Gefieder, Gewölk. Anlässlich einer Fußnote Heiner Müllersvon Joseph Vogl | Seite 187 |
Jenseits der optischen Höhle. Vom Rhythmus des Sehensvon Ulrike Haß | Seite 199 |
Kumasakas Schatten (II)Heiner Müller und das Nô-Theater: Exkurs über die Landschaftvon Armen Godel | Seite 212 |
Autorenverzeichnis |
„Der Band ist ein weiterer wichtiger Beitrag gegen das Vergessen dieses großen Theater-Autors.“WAZ
Zur Herausgeberin
Ulrike Haß
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The yellow wall
Altes Lied
Topologie des Chors
Auf der Kippe spielen
Die Jelinek-Inszenierungen „Rechnitz (Der Würgeengel)“ von Hermann Schmidt-Rahmer in Düsseldorf und „Das Werk / Im Bus / Ein Sturz“ von Karin Beier in Köln
The yellow sea
Bibliographie
Beiträge von Ulrike Haß finden Sie in folgenden Publikationen:
Ulrike Haß
Kraftfeld Chor
Aischylos Sophokles Kleist Beckett Jelinek
Hofmann&Lindholm
Nachgestellte Szene
Heft 09/2019
Miser Felix Austria
Martin Kušej über seinen Start am Burgtheater
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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