Kalkfell Zwei
Herausgegeben von Frank Hörnigk
Paperback mit 160 Seiten, Format: 215 x 285 mm
ISBN 978-3-934344-33-4
Heiner Müllers 75. Geburtstag am 9. Januar 2004 gab den Anstoß zu diesem Arbeitsbuch - sein Titel KALKFELL (ZWEI) setzt die Maßstäbe. Er zitiert Müllers Text LANDSCHAFT MIT ARGONAUTEN, aber daneben auch den ersten von „Theater der Zeit" herausgegebenen Band dieser Reihe überhaupt: Nur wenige Monate nach seinem Tod haben Freunde, Weggefährten ein Erinnerungsbuch für Heiner Müller vorgelegt, das mit der Intensität seiner Bilder, mit seinen Textbeiträgen eine für alle Beteiligten damals ungewöhnliche öffentliche Wirkung erzielte. Denn für einen kurzen Moment schien hier wieder jenes im Augenblick der Trauer und Betroffenheit zugleich beglückend erfahrene Gefühl miteinander erlebter Verbundenheit und Solidarität zurückzukehren, das sie in den Tagen nach Müllers Tod gemeinsam getroffen hatte wie ein Versprechen in die Zukunft. Doch nichts bleibt wie es war - und so kann heute auch nicht dort weitergeschrieben werden, wo im März 1996 KALKFELL (EINS) endete. Die Zeitumstände haben sich verändert - und wir uns mit ihnen. Vor allem sind wichtige Stimmen hinzugekommen, deren Wahrnehmungen und Reflexionen zu Heiner Müllers Werk wesentlich sind - auch als Herausforderungen an die Generationserfahrungen der Älteren. Einige dieser jüngeren Stimmen sind in dem nun vorliegenden Buch versammelt. Sie machen uns vor allem bewusst, wie fremd Texte erscheinen können, die aus anderer Perspektive noch immer als das ganz Eigene empfunden werden; sie belegen andererseits aber auch Arbeitshaltungen, die diese Fremdheit als ästhetische Herausforderung annehmen - für sich selbst - wie in der gesuchten Begegnung mit Müller: „Ich habe keine Ahnung, was ich schreiben soll, ich spüre nur bei jedem Text seinen Blick." (Jochen Schmidt).
Wie sich erinnern? Nicht mehr an ein Vorbild, sondern an ein Bild, das noch nicht erkannt ist - oder das verblasst? Der Gedanke einer „Rückkehr des Werks von der Bühne in die Schrift ... Die Chance einer Besinnung auf die Texte", reicht angesichts solcher Fragestellung wesentlich weiter als bis zu dem lediglich konstatierenden Eingeständnis, dass Müllers Stücke - jedenfalls in Deutschland - gegenwärtig und seit längerem keine Konjunktur mehr haben. (Was von vornherein noch nichts gegen die Stücke aussagt, sondern vielmehr Auskunft geben könnte über den kulturellen Zustand des Gemeinwesens). Aber jenseits aller Klage darüber bleibt der Befund signifikant: Müllers Texte warten auf Geschichte, wie sie im Übrigen immer darauf gewartet haben - auch in den Hoch-Zeiten ihrer Anwesenheit auf den Bühnen der beiden deutschen Republiken - im kurzen Sommer der Anarchie.
Heute warten sie zusätzlich aber auch noch auf ein Theater, das sich den Maßstäben ihrer Form unter den veränderten Bedingungen stellt - in der Suche nach eigener Gestalt. In solchen Zeiten kann ein Gedanke des Gewahrwerdens anderer Wirkmöglichkeiten der Texte hilfreich sein und zu neuen Einsichten führen, ohne jeden Anflug von Klage. Ein hinweisendes Bedenken, Müllers Theater heute würde seinen Ort nicht mehr auf dem Theater haben, „sondern in schön gedruckten, knapp kommentierten Leinenbänden, Texte darreichend, die wie meteoritenhafte Fremdkörper in die Gegenwart ragen" (Friedrich Dieckmann), erwägt in solcher Eröffnung die Chancen zusätzlicher Wahrnehmung, nicht aber die Absage an die Theatralität des Materials. Seine Probe findet zudem ja auch noch immer und immer wieder statt: Gegenwärtig herausragend in dem als Hommage an den Landsmann Müller geplanten „Dritten Sächsischen Theatertreffen" in Chemnitz im April 2004, sowie in Vorbereitung darauf in den Inszenierungen von Müller-Stücken und -Übersetzungen an 15 sächsischen Theatern , ausgewiesen als Gemeinschaftsprojekt mit Gästen - und sehr bewusst in der Mitte dieses Bandes als Angebot und Versuch einer Selbstverständigung der Theater dieses Landes vorgestellt.
Anderswo spielt und entdeckt man das Theater Heiner Müllers unter anderen Umständen: In der arabischen Welt, in Indien, den USA, in Frankreich, Lateinamerika oder Asien erlebt es seine Wiedergeburt und Erweiterung - auf immer wieder neue und andere Weise. Auch darüber wird hier in Auszügen das Gespräch vertieft oder weitergeführt. Es sind Berichte und sehr persönliche Ansprachen des Eingedenkens und der Hoffnung, die damit zum Abdruck gelangten; andererseits verweisen sie indirekt ebenso auf die kommunikativen Potentiale, auf die Schnelligkeit von Kommunikationsprozessen in einer medial vernetzten Welt - auch als neue Chancen der Kunst. Erneuert ist damit zugleich jener Gedanke eines „universellen Diskurses, der nichts und niemanden auslässt", den Müller vor über zwanzig Jahren schon formuliert hatte, und der seine Wirklichkeit vielleicht erst jetzt endgültig gewinnt.
„Ein Arbeitsbuch für Heiner Müller", lautete vor acht Jahren der Untertitel zu KALKFELL (EINS). Das war es wohl eher nicht: Es war ein Buch der Trauer, der Erinnerung, ein Freundschaftsbuch und vielleicht auch eine Liebesgeschichte. Wir hatten uns dazu bekannt. Ein Jahr später wollte oder konnte noch niemand diesen Bann brechen. Es musste Zeit vergehen. Jetzt, im Januar 2004, kann dieser Anspruch, sich arbeitend Heiner Müller zu stellen, seinen Text in den Wirkungen auch kritisch zu befragen, wenigstens als Selbstanforderung formuliert werden. Das nimmt den Ton anhaltender Nähe nicht zurück - im Gegenteil. Er ist anwesend in allen Wortmeldungen, in allen Bildern dieses Bandes. Verbunden bleibt er Heiner Müller im Gedenken. Einige seiner letzten Aufzeichnungen - NACH DEM ENDE DER HANDSCHRIFT - sind dem Ganzen vorangestellt als Fragmente eines Werkes, dessen Strahlkraft Bestand hat und sich vervielfältigt zeigt in den Arbeiten derer, die ihm nachfolgen.
Frank Hörnigk,
9. Januar 2004
Kapitel | Seite |
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Kapitel | Seite |
Editorialvon Frank Hörnigk | Seite 6 |
Notizen aus dem Krankenhaus, 1994von Heiner Müller | Seite 6 |
Mommsen im Arbeitsamtvon Volker Braun | Seite 18 |
Das Sein bestimmt noch das Bewusstseinvon Wolf Bunge | Seite 19 |
Bruchstücke des GLÜCKSGOTTvon Friedrich Dieckmann | Seite 20 |
Texte, ins Leere geworfenWolfgang Engel im Gespräch mit Frank Hörnigkvon Wolfgang Engel und Frank Hörnigk | Seite 24 |
Im Spiegel wohnen nach BILDBESCHREIBUNGvon Philip Bußmann und Mark Lammert | Seite 29 |
Vom Winde verwehtDie Fahne von Kriwoj Rog in Müllers Fernsehbearbeitungvon Klaus Gehre | Seite 32 |
Müller in der Wüste. [ein amerikanischer Traum]von Knut Gerwers | Seite 35 |
Du, der Lesende ...von Heiner Goebbels | Seite 36 |
Papierpalastvon Annett Gröschner und Arwed Messmer | Seite 36 |
Erinnerung 84von Dimiter Gotscheff | Seite 37 |
Eiswürfelvon Durs Grünbein | Seite 38 |
Material vor Augenvon Thomas Heise | Seite 39 |
„In den Ruinen der Moralität tätig ...“Gespräch mit Heiner Müller über die Annalen des Tacitusvon Alexander Kluge | Seite 44 |
18.12. RECHTS DER ISARvon Katja Lange-Müller | Seite 49 |
Text/Theater/Textvon Hans-Thies Lehmann | Seite 51 |
Müller American Stylevon Janine Ludwig | Seite 53 |
Warum?von Monika Maron | Seite 54 |
Steine auf Müllers Grabvon Grischa Meyer | Seite 55 |
Jenseits der Sprache lebenNotizen nach Heiner Müllers Todvon Thomas Oberender | Seite 57 |
Es fehlt die Spannung von einem DenkerEmine Sevgi Özdamar im Gespräch mit Stephan Suschkevon Stephan Suschke und Emine Sevgi Özdamar | Seite 60 |
Sniper Worldvon Ulrich Peltzer | Seite 66 |
Red Riding HoodFür Annavon Alexander Polzin | Seite 66 |
Die Allianz der Schuldigenvon Frank M. Raddatz | Seite 68 |
ICH HABE DIR GESAGT DU SOLLST NICHT WIEDERKOMMENvon Kathrin Röggla | Seite 72 |
Sachsen Insert | Seite 75 |
Müller in Sachsen: III. Sächsisches Theatertreffen 2004 | |
Darüber lacht die Weltvon Jochen Schmidt | Seite 131 |
Auch Gott ist totvon Rolf Xago Schröder | Seite 132 |
Innenschau und DraufsichtNotiz in Delhi 2002, workshop Hamletmaschinevon Alexander Stillmark | Seite 134 |
Zweiter Brief an Marisa FabbriÜber Heiner Müller, Michelangelo und Cellinivon Wolfgang Storch | Seite 135 |
Weitermüllern 1990Marianne Streisand, Richard Herzinger, Bert Koß und Joachim Lehmann im Gesprächvon Marianne Streisand | Seite 142 |
Dorotheenstädtischer Friedhofvon Holger Teschke | Seite 147 |
Spaltung statt Vereinigung?von Wolfgang Thierse | Seite 148 |
Eine Rede, zwei GedichteDer Künstler das Kind/Der Abschied/Der letzte Versuchvon B. K. Tragelehn | Seite 150 |
Erinnerungvon Lothar Trolle | Seite 155 |
Brief aus Kairovon Ginka Tscholakowa | Seite 156 |
Wie ich immer wieder mal ...von Peter Wawerzinek | Seite 157 |
Text und Musikvon Hannes Zerbe | Seite 159 |
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Zum Herausgeber
Frank Hörnigk
Weitere Beiträge von Frank Hörnigk
Geländewagen 1994
Heiner Müller zum 65.
Editorial
Verzeichnis der Bühnenrollen
"Endspiele" ins Freie
Eine öffentliche - eine private Person
Bibliographie
Beiträge von Frank Hörnigk finden Sie in folgenden Publikationen:
Heft 02/2015
Je suis Charlie
Heft 09/2013
Romeo Castellucci: Zurück in die Zukunft
Über die Vermessung der Welt von morgen
Jeden Monat die wichtigsten Themen bei Theater der Zeit
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